Dorothee Sölle: Warum ich Christ bin

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Novas
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#1 Dorothee Sölle: Warum ich Christ bin

Beitrag von Novas » Mo 16. Mär 2015, 22:00

"...Christ bin ich, wenn ich glaube, dass alles möglich ist. Blinde lernen sehen, alte Nazis hören auf zu verdrängen, Technokraten hören den Machtlosen zu. Die Lahmen gehen, die Tauben hören, die Armen hören die Nachricht von der Befreiung. Vielleicht muss man an dieser Stelle den individualistischen Ton des Spirituals verlassen und aus dem lch ins Wir, aus dem Voluntarismus in die Erfahrungen der Geschichte übergehen. Christ bin ich, weil ich glaube, dass das, was allen versprochen war, möglich ist.
Jesus von Nazareth hat mit seinem Leben etwas versucht, was ich auch will, an dem mir tatsächlich "alles" liegt. Da der Ausgang seines Experiments ungewiss ist, kommt es darauf an, dass möglichst viele, möglichst alle daran mitarbeiten. Mit-Wunder-Tun, Mit-Leiden, Mit-Erzählen, Mit-Teilen. Er ist mein Bruder, der, etwas älter als ich, mir immer schon einen Tod voraus ist. Der, etwas jünger als ich, verrückter, mir immer schon ein Wunder voraus ist.

Was tut er mir? Ich lerne von ihm. Wenn man nicht mehr lernt, ist man tot, und von ihm lerne ich am meisten. Er spricht von meinem Leben so, wie ich will, dass von ihm gesprochen wird, ohne jede Verachtung. Er lässt es nicht zu, dass nur ein einziger Tag meines Lebens gering geachtet, sinnlos, ohne das große Experiment sei. Ich lerne von ihm, allen Zynismus zu überwinden. Diese Lektion finde ich heute am schwersten - es gibt überzeugende Gründe, Menschen zu verachten, es gibt großartige Gründe, mich selber zu verachten. Es gibt eine Versuchung, das Leben nur teilweise, nur ein Stück weit, nur unter Umständen zu bejahen. Er beschämt mich - meine endliche, ungeduldige, teilweise, oberflächliche Bejahung. Er lehrt mich ein unendliches, revolutionäres, nichts und niemanden auslassendes Ja...
" (In: W. Jens (Hrsg): Warum ich Christ bin, München 1982, S.348)

2Lena
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#2 Re: Dorothee Sölle: Warum ich Christ bin

Beitrag von 2Lena » Mi 18. Mär 2015, 08:09

Das ist gut beschrieben ... gefühlvoll und optimistisch ...
Nur, wie wird man mit all den Fragen fertig, die das Christentum aufgeworfen hat?
Ich meine - da gehen die Leute am Sonntag in die Hl. Messe ... oder mittlerweile eben schon nicht mehr ... Dann wird dort ein Evangelium vorgelesen, das alle Regeln der Logik sprengt.

(Da ist auch keiner, der die Dichtkunst erklärt, dass dieser Text eine Aufgabe ist, dass hier noch Komponenten fehlen. Eigentlich fehlen sie nur in der Übersetzung, weil die Doppelbedeutungen in anderen Sprachen nicht funktionieren).

Unter diesem Gesichtspunkt des "Nichtwissens" werden sogar die Sakramente ungültig (nichts wird mehr als besonders heilig betrachtet). Keiner sinkt in die Knie, da er innerlich wirklich tief berührt wird. Die Menschen gehen nur noch wegen dem Singen und persönlichen Beten in die Kirche. Nichts von den alten Werten erschließt sich ihnen mehr direkt.

Deine Zeilen sprechen an - aber sie stehen in der Luft ... Sie sind ohne Bezug zu den Evangelien. Das gilt dann als Fantasiererei. Der folgt die Mutlosigkeit, da die praktische Anleitung fehlt. Die erst macht die Hoffnung und sichert den Glauben.

Die Jugend bereitet heute mit ihrer Ungläubigkeit große Sorgen und bereits die vorangegangene Generation war nur "halbgläubig". Spätestens bei den Szenen des Ukrainekonfliks geht manchem Lehrer die Phantasie durch, ob irgend etwas von dem bisherigen Schulunterricht im Krisenfall den Kindern das Überleben lehrt - oder ob dann alles aus ist - und im besten Fall die Menschheit wieder bei Null beginnt.

Novas
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#3 Re: Dorothee Sölle: Warum ich Christ bin

Beitrag von Novas » Mi 18. Mär 2015, 13:21

2Lena hat geschrieben:Deine Zeilen sprechen an - aber sie stehen in der Luft ... Sie sind ohne Bezug zu den Evangelien. Das gilt dann als Fantasiererei

Das kommt darauf an, wie man damit umgeht. Dorothee Sölle lese ich, als einen Aufruf, den Spuren Jesu im alltäglichen Leben zu folgen. Da findet die Berührung mit ihm statt.

Die Jugend bereitet heute mit ihrer Ungläubigkeit große Sorgen und bereits die vorangegangene Generation war nur "halbgläubig".

Ich sehe das eher entspannt. Die Welt hat sich verändert und die Spiritualität verändert sich auch. Alles fließt, sagte der Heraklit. Darum gibt es selbst in der Kirche Bewegung: http://www.wir-sind-kirche.de/

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