Armut in Deutschland

Politik und Weltgeschehen
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Janina
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#1 Armut in Deutschland

Beitrag von Janina » Mo 23. Okt 2017, 15:51

http://www.kirche-im-wdr.de/startseite/ ... nderarmut/
Es häufen sich Berichte über die zunehmende Armut.
Heute morgen kam's im Radio. Familien am Rande des Existenzminimums, am 20. ist das Geld schon weg, der Herd ist kaputt. Für einen Neuen reichts nicht. Die kaputte Waschmaschine geht noch, hat sich mit einer Nachbarin zusammengetan, deren Trockner kaputt ist. Beide teilen sich jetzt die verbliebenen Maschinen.
Abgesehen davon, dass solche Aktionen total sinnvoll sind - was ist eigentlich aus der guten alten Wäscheleine geworden?
Wo liegt das Problem, für umme an einen Herd zu kommen?
https://www.ebay-kleinanzeigen.de/s-zu- ... 92l1038r50
Gerade haben wir einen GUTEN Gasherd auf den Schrott geschmissen, weil es niemanden gab, der ihn geschenkt haben wollte.
Ist Armut nur das Problem, da wo es was geschenkt gibt, nicht zuzugreifen?

closs
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#2 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von closs » Mo 23. Okt 2017, 16:36

Janina hat geschrieben:ie kaputte Waschmaschine geht noch, hat sich mit einer Nachbarin zusammengetan, deren Trockner kaputt ist. Beide teilen sich jetzt die verbliebenen Maschinen. - Abgesehen davon, dass solche Aktionen total sinnvoll sind - was ist eigentlich aus der guten alten Wäscheleine geworden?
Da kommt Verschiedenes zusammen:

Es gibt WIRKLICH Armut - auch wir kennen viele WIRKLICH arme Leute in unserer nord-bayrischen Gegend, die ja nun zu den reicheren Gegenden Deutschlands zählt. - Einige Beispiele:
* 54jähriger Bauarbeiter, der 35 Jahre lang auf dem Bau gearbeitet hat, sonst nichts gelernt hat, und jetzt einfach medizinisch fertig ist - 100% erwerbsgemindert: 680,- Euro Nettorente p.m. - gerade so viel, dass es keine Zuschüsse gibt.
* 85-jährige Rentnerin mit klassischer Trümmerfrau-Karriere = keine Einzahlungen, viele Kinder (Haushalt war damals ein Vollzeitjob, wenn man Wäsche mit den Händen waschen muss), etc.: 570,- Euro, allerdings im Wohneigentum.
* Allein-Erziehende Mutter mit 2 Kindern, die incl. Kindergeld und Unterhaltszahlungen irgendwo knapp unter 1.500 Euro landet - und HArtz4-Zuschüsse abgezogen bekommt, wenn sie einen 450,-Euro-Job macht.

Von dieser Sorte gibt es viele. - Das ist das Eine.

Das andere ist: Auch ein Familien-Haushalt mit 2.000 Euro netto incl. Kindergeld gilt heute als arm - was soziologisch auch richtig ist. - Denn damit kann man sich zwar genug Bauch anessen und warm schlafen und muss nicht nackig rumlaufen, aber: Im Gegensatz zu den Nachkriegsjahren, als fast alle arm waren, ist man heute in dieser Liga gesellschaftlich ausgegrenzt - auch weil heute so Vieles als selbstverständlich gilt (TV, wenigstens ein altes Auto, Internet, etc.), was es bis in die 60er Jahre hinein für "das Volk" einfach nicht gab (Internet eh nicht).

Dazu kommt noch etwas ganz anderes hinzu: Die immer niedrigere Grundbildung (im humboldtschen Sinne) und immer weniger geistige Orientierung (was soll ein MAterialismus-Normalo anderes als Lebensziel haben, als materialistischen ERfolg?). - Oder andersum: Es gibt auch noch heute Mönchsorden, die nicht mehr als ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und etwas zu Essen brauchen, um voll erfüllt sein zu können - oder auch Familienverbände, die sich selber gegenseitig so wichtig sind, dass das MAterielle nur insofern eine Rolle spielt, dass man irgendwie durchkommt.

"Was ist eigentlich aus der guten alten Wäscheleine geworden?", fragst Du. - Tja - sie ist ein no-go in einer Kultur-Welt, die inzwischen seit Generationen materielle Selbstverwirklichung predigt - dann geht man lieber alle paar Wochen zur Kleiderkammer. - Bei Migranten geht das eher, weil sie oft familiär enger gebunden sind - da hat man noch Grund, trotz materieller Armut stolz auf sich zu sein.

Mimi
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#3 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von Mimi » Mo 23. Okt 2017, 19:35

Armut hat verschiedene Gesichter.
Was closs schon schrieb - in Kurzform:
In manchen Ländern verhungert man dann,
hier ist man heute dadurch weitgehend vom gesellschaftlichen
Leben (auch im Sinne von Anerkennung/Achtung der Person) ausgeschlossen.

Closs:
….was es bis in die 60er Jahre hinein für "das Volk" einfach nicht gab…
Genau das kenne ich noch sehr gut.
Riesiger Mühlenbetrieb, Viehzucht, Landwirtschaft, vier angestellte
Mitarbeiter, zwei wohnten im Haus, vier Kinder inkl. Eltern.
Keine Waschmaschine, alle 2 Wochen großer Waschtag, von morgens bis
Abends, wer die Hände frei hatte, musste mithelfen. In der riesigen Küche ein
beheizbarer, großer Kessel. Darin wurde die Kochwäsche gesiedet.
Alles andere von Hand oder auf der Wäschereibe. Im Garten dann unendliche Reihen
von Wäsche auf die Leinen gespannt, fröhlich sich im Wind wiegend.
Kein TV, ich war 12 Jahre als wir das erste Gerät bekamen, nur ein Programm ab 17.00
....10 min Sport mit Adalbert Dickhut...Luis Trenker "der Berg ruft"....grins,
vielleicht erinnerst Du Dich???
:D
Kein Kühlschrank, bin aufgewachsen in einem Anwesen aus dem 12. Jahrhundert.
Da gab es im Haus eine kleine Kammer. Sie war der kühlste Fleck im Haus und galt als
Vorratskammer. Dort wurde es auch im Sommer kaum warm. Die damaligen Baumeister
wussten das exakt auszurechnen. Manchmal wurde auch zusätzlich im Wasserbottich gekühlt.
Auch in der örtlichen Metzgerei wurde vorwiegend mit angelieferten Eisblöcken gearbeitet.
Telefon? Kaum jemand…. (Bäcker, Metzger, Kolonialwarenhändler, Friseur und wir wg. unserem Mühlenbetrieb.) Es war völlig normal, dass die Nachbarn zum Telefonieren kamen.
Auto? Die in Klammer genannten Verdächtigen - ohne uns, schließlich hatten wir
ja Traktor und Pferdegespann. :mrgreen:
Und...Plums-Klo...wir waren da aber schon sehr luxeriös, wir hatten 2 davon in nebeneinander angrenzenden Kämmerchen...aber jedes für sich!
Deswegen galt man damals nicht als arm, das war völlig normal!
Meine erwachsenen Kinder hören mir immer sehr gespannt zu, wenn ich davon erzähle.
Scheint wie „Märchen“ zu klingen.
Ich erinnere mich gut, als vor 2 Jahren mein Kühlschrank seinen sehr alten Geist aufgab.
Es war Anfang Januar. Ich beschloss, den Inhalt auf meinen Balkon zu verlagern, mindestens bis März. Meine jüngeren Bekannten konnten es nicht fassen.
Als ich dann Mitte März das neue Teil kaufte, wurden sie doch etwas bescheidener mit
Spott, da ich weder an Vergiftung oder Schwindsucht gestorben war. Auf dem Balkon war es an vielen Tagen kälter als im Kühlschrank üblich…..
"Jedes menschliche Wunschbild,
das in die christliche Gemeinschaft mit eingebracht wird,
hindert die echte Gemeinschaft und muss zerbrochen werden,
damit die echte Gemeinschaft leben kann."
Dietrich Bonhoeffer

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Janina
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#4 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von Janina » Mo 23. Okt 2017, 20:39

closs hat geschrieben:Es gibt WIRKLICH Armut ... Einige Beispiele...
Ja, und das Komische ist, die WIRKLICH Armen sind nie die, die in den Medien vorgeführt werden. Da kommen immer welche, wo der Zuschauer aus der Lamäng die Ausgaben halbieren könnte. Ne Waschmaschine für umme, ein Herd oder Kühlschrank für umme, Brennholz für umme... da weiß echt jeder ne Quelle. Da gabs auch mal im Fernsehen ne Sendung, da ging das Kamerateam mit dem Sozialamtsfuzzi auf Ortstermin mit. Da war ein Hartzler, der wollte ne neue Waschmaschine, weil seine kaputt wäre. Die würde ständig vor Schaum überquellen. Nachdem der Zuschauer sowie der Beamte vor Ort mal vorgeschlagen hat, die Menge an Waschmittel von einem Eimer auf einen Becher zu reduzieren, war das Problem gelöst, und zurück blieb die sättigende Erkenntnis: Es gibt keine Armen, nur Doofe, die ihre Plünnen nicht zusammenhalten können. Und ich denke, DAS ist die Botschaft, die uns vermittelt wird, und gegen die wir uns wehren sollten.

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AlTheKingBundy
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#5 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von AlTheKingBundy » Mo 23. Okt 2017, 20:42

Ich kann mich nur anschließen. Alles muss immer neu sein, 2 Jahre = veraltet. Das kurzfristig Billige wird zum langfristig Teuren. Mit 50% weniger Wachstum ging es uns vor ein paar Jahrzehnten auch sehr gut. Vom Wachstum haben sowieso nur wenige etwas, die in der Umverteilungspyramide oben sitzen und die Politiker reichen es nach oben weiter.
Beste Grüße, Al

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
(Albert Einstein, 1879-1955)

Mimi
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#6 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von Mimi » Mo 23. Okt 2017, 21:25

Aus Gründen des gesellschaftlichen Abseits, geben
viele Menschen in Deutschland - soweit möglich - ihre Armut nicht zu
erkennen, jedenfalls nicht im näheren Umfeld.
( Die Jüngeren tun sich da zunächst noch etwas leichter). Vielleicht, weil da ja
noch mehr Hoffnung vorhanden ist, aus einer derzeitigen Misere wieder heraus zu kommen.
Ich spreche häufig mit Menschen, die davon betroffen sind…und es sind viele, auch viele,
wo man es nicht vermuten würde, weil nach außen krampfhaft versucht wird, einen gewissen Status zu erhalten.

Selbst kann ich das gut verstehen. Ich weiß ein wenig, wie sich das anfühlt.
Mit meinen Zwillingen zusammen haben wir, so etwa ab dem sie ca. 14 Jahre waren,
jahrelang von meinem Durchschnittsgehalt und dem Kindergeld gelebt.
Der Vater war ab da nicht mehr in der Lage, Unterhaltszahlungen zu leisten, davor schon nicht mehr regelmäßig und so gut wie nie in der festgelegten Höhe.
Dazwischen noch eine 3-jährige Phase meiner 2. Ausbildung, da lag ich dann noch weit unter Durchschnitt.
Wir hatten lange, extrem knappe Phasen - die finanziellen Probleme fingen manchmal schon an bei den Schulausflügen und vielen Kleinigkeiten, die für andere eben keine darstellten.
Zahnarzt, Klavierstimmung, irgend etwas kaputt …..alles hatte immer was Dramatisches.
Beide haben dann ein Studium absolviert und jeder weiß, dass mit dem BAföG nicht alles geregelt werden kann, zumal beide in anderen Städten studierten. Beide arbeiteten nebenher.
Allerdings hatten wir auch die Aussicht auf finanziell bessere Zeiten.
Mir geht es jetzt nicht schlecht, meine Rente ist nicht hoch, aber ich muss keine
Grundsicherung beantragen. Dazu kleiner Zusatzverdienst durch 2 Neben-Jobs je 2 Std. wöchentlich, die mir sehr viel Spass machen…..
….und zwei Kid’s, die liebevoll den mütterlichen Haushalt nach Strich und Faden aufrüsten und mich finanziell unterstützen wo immer nötig.
"Jedes menschliche Wunschbild,
das in die christliche Gemeinschaft mit eingebracht wird,
hindert die echte Gemeinschaft und muss zerbrochen werden,
damit die echte Gemeinschaft leben kann."
Dietrich Bonhoeffer

closs
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#7 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von closs » Mo 23. Okt 2017, 21:33

Janina hat geschrieben:zurück blieb die sättigende Erkenntnis: Es gibt keine Armen, nur Doofe, die ihre Plünnen nicht zusammenhalten können. Und ich denke, DAS ist die Botschaft, die uns vermittelt wird, und gegen die wir uns wehren sollten.
Wobei wir wieder einmal beim Thema "Medien" wären. - Nicht die Wahrheit steht im Mittelpunkt, sondern die Sensation.

Mimi hat geschrieben:Ich spreche häufig mit Menschen, die davon betroffen sind…und es sind viele, auch viele,wo man es nicht vermuten würde, weil nach außen krampfhaft versucht wird, einen gewissen Status zu erhalten.
So ist es - das sind die versteckten Armen, die sich anhören müssen, dass sie zu wenig leisten würden, selbst wenn sie das Doppelte des Durchschnitts leisten.

AlTheKingBundy hat geschrieben:Vom Wachstum haben sowieso nur wenige etwas, die in der Umverteilungspyramide oben sitzen
Ebenfalls Zustimmung - man nennt dies dann "Leistungs-Gesellschaft".

Wir leben momentan in guten Zeiten und haben trotzdem viele Arme. - Wie soll das werden, wenn es mal weniger Wachstum gibt (und das wird allein aus demographischen Gründen spätestens Mitte der 20er Jahre so sein). - Dann wird der Souverän zuschlagen.

Lena
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#8 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von Lena » Di 24. Okt 2017, 11:31

Eine Flut von Informationen überschwemmen Menschen durch das Netz, die Medien, die Werbung, die Zeitschriften - was man sich alles anschaffen könnte und sollte und müsste.

Jeder
der nach mehr
giert
als er haben kann
ist arm
dran

So gesehen gibt es viele Arme.

Die echten Armen, in Deutschland und dem Rest der Welt, die tun mir leid.

Ein großer Gewinn aber ist die Frömmigkeit zusammen mit Genügsamkeit.
1. Tim. 6,6
Kannst du mir helfen, dich richtig zu verstehen?
Erbreich 

R.F.
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#9 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von R.F. » Di 24. Okt 2017, 12:36

Janina hat geschrieben: - - -
Es gibt keine Armen, nur Doofe, die ihre Plünnen nicht zusammenhalten können. Und ich denke, DAS ist die Botschaft, die uns vermittelt wird, und gegen die wir uns wehren sollten.
Nicht so laut! Vor allem den Kreis der Plünderer nicht nennen. Tun übrigens selbst die Tapfersten nicht...

ThomasM
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#10 Re: Armut in Deutschland

Beitrag von ThomasM » Di 24. Okt 2017, 12:55

Ich sehe das wie die Bibel
Mt. 26,11
Arme, die eure Hilfe nötig haben, wird es immer geben, ich dagegen bin nicht mehr lange bei euch
Moderner ausgedrückt lässt sich mit keinem Wirtschaftssystem verhindern, dass es Arme gibt, im Zweifel wird eben die Definition von arm angepasst, wie man an Deutschland in Vergleich mit z.B. Afrika sieht.

Es ist der große Irrtum unserer Zeit, dass die Menschen meinen, man könnte Armut bekämpfen und abschaffen, das geht nicht.
Alles, was geht - und als Christ ist man aufgefordert dies zu tun - ist, Armen zu helfen.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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