Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

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Agent Scullie
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#171 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Agent Scullie » So 26. Mär 2017, 16:19

Tyrion hat geschrieben:Warum sollte eine Reform des Islam nicht möglich sein? Das Christentum wurde ja auch menschlich gemacht, reformiert. Das ging zwar sehr blutig vonstatten, da hierfür Staat und Kirche voneinander getrennt werden mussten, was die Vertreter des Christentums nicht so toll fanden. Aber danach war es möglich, dem Christentum das Töten und Foltern im Namen ihres Gottes so weit möglich auszutreiben. Dafür mussten die Vertreter der christlichen Glaubensrichtungen entmachtet werden.
Ich habe jetzt nicht den ganzen Thread durchgelesen, würde diese Thematik aber gerne noch einmal aufgreifen: eine Religion, sei es nun der Islam, das Christentum oder sonst eine religiöse Lehre, kann nicht reformiert werden. Auch das Christentum wurde nie reformiert. Was in Zusammenhang mit dem Christentum tatsächlich reformiert wurde, war nicht die Religion selbst, sondern einmal die religiöse Institution, also die Kirche, einmal in Form der Reformation zu Beginn zu des 16. Jahrhunderts und dann noch durch kleinere Reformen, und zum zweiten der Staat, indem er, was du, Tyrion, hier ansprichst, aufhörte, sich als weltlicher Verteidiger der Lehre Christi zu sehen, und seinen Bürgern die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährte (wie z.B. erstmalig unter Friedrich dem Großen, "In meinem Staat soll jeder nach seiner Fa­çon selig werden").

Übertragen wir das nun auf den Islam, so ist zunächst einmal festzustellen, dass es, zumindest im sunnitischen Islam, keine der Kirche vergleichbare religiöse Institution gibt, die reformiert werden könnte. Etwas anders ist das beim schiitischen Islam im Iran oder beim Wahabismus in Saudi-Arabien, da ist schon eher so etwas wie ein institutionalisierter Klerus vorhanden. Und im Fall des Iran hat es zu Zeiten der Schah-Herrschaft ja auch tatsächlich eine Reform gegeben, die Reformbewegung nannte sich damals "Quietismus", was so viel bedeutete wie dass sich die iranische Geistlichkeit aus den politischen Entscheidungen des Schah, wie z.B. die Gleichberechtigung von Mann und Frau durchzusetzen, heraus hielt. Nur wurde diese Reform ab 1979 durch den "Gegenreformator" Ayatollah Chomeini rückgängig gemacht. Analog könnte es im wahabitischen Klerus in Saudi-Arabien eine Reform geben, allerdings ist dort eher nicht damit zu rechnen, weil da eher die konservativen Hardliner dominieren.

Was Reformen des Staates anbetrifft, so hat es die in diversen muslimisch geprägten Ländern auch schon gegeben, so z.B. in der Türkei unter Atatürk, auch wenn Herr Erdogan auch da an einer Gegenreformation arbeitet.

Fazit: eine Reform des Islam, d.h. der Religion selbst, kann es nicht geben, weil es die bei keinen Religionen geben kann, Reformen des Staates sind in muslimisch geprägten Ländern hingegen durchaus möglich, ebenso Reformen des Klerus, soweit ein solcher im Islam existent ist, wie etwa im Iran oder in Saudi-Arabien.
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#172 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Agent Scullie » So 26. Mär 2017, 16:40

Halman hat geschrieben:Im sunnitischen Islam ist eine „Neuerung“ (arab. Bid'ah), welche den Islam selbst erneuert, verboten.
Im Fall des Christentums wird eine Neuerung, die die christliche Lehre, also die Lehre Jesu Christi, selbst verändern würde, vielleicht nicht ausdrücklich in der Bibel verboten, aber ich wage mal zu behaupten, dass die Mehrzahl der Christen eine solche Neuerung doch als mit der Bibel unvereinbar ansehen würde. Kommt also auf eins aus. Alle Reformen, die es in Verbindung mit dem Christentum gegeben hat, d.h. Reformen der Kirche oder des Staates in christlich geprägten Ländern, haben die christliche Lehre an sich stets unangetastet gelassen. Ein Martin Luther hat Praktiken der katholischen Kirche, wie z.B. den Ablasshandel, kritisiert, aber niemals Bibelstellen.

Halman hat geschrieben:Was die Trennung zwischen Religion und Staat angeht, verweise ich auf das Buch "DER ISLAM - 1400 Jahre Glaube, Krieg und Kultur" vom SPIEGEL-Buchverlag und zitiere aus den Seiten 146—147 Rainer Taub:
Hierzu gehört vor allem der Umstand, dass der militärisch-politische Blitzaufstieg der Muslime eine Trennung von Kirche und Staat, Religion und Welt erst gar nicht hatte entstehen lassen. Während das Christentum zunächst eine jahrhundertelange Untergrundexistenz führen musste, bildete die islamische Gesellschaft von Anfang an eine schlagkräftige Einheit von Religion und Staat, Herrscher und Untertanen.
Aber als sich das Christentum dann ab dem 4. Jahrhundert von der Untergrundbewegung zur beherrschenden Staatsreligion entwickelt hatte, bildete es ebenfalls, ganz ähnlich dem Islam, die Basis für "eine schlagkräftige Einheit von Religion und Staat, Herrscher und Untertanen".

Halman hat geschrieben:Eine überlieferte islamische Selbstbeschreibung fasst dies in einem einprägsamen Bild: »Der Islam, der Herrscher und die Menschen sind wie das Zelt, der Mast, die Stricke und die Pflöcke. Das Zelt ist der Islam, der Mast ist der Herrscher, die Stricke und Pflöcke sind die Menschen.«
Och, im Mittelalter gab es ganz ähnlich klingende Selbstbeschreibungen des Christentums. So hieß es bei Bischof Adalbero von Laon: "Das Haus Gottes ist dreigeteilt, die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten endlich arbeiten". Oder Hildegard von Bingen verglich den Staatsaufbau mit einem Kirchengebäude: geistliche und weltliche Fürsten seien die Pfeiler und Mauern, das Dach seien die Ritter, die Fenster seien die Gelehrten, die das Licht hereinlassen, und der Fußboden sei das Volk.
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#173 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Kingdom » So 26. Mär 2017, 18:48

Agent Scullie hat geschrieben:Im Fall des Christentums wird eine Neuerung, die die christliche Lehre, also die Lehre Jesu Christi, selbst verändern würde, vielleicht nicht ausdrücklich in der Bibel verboten, aber ich wage mal zu behaupten, dass die Mehrzahl der Christen eine solche Neuerung doch als mit der Bibel unvereinbar ansehen würde. Kommt also auf eins aus.

Du hast es richtig erkannt eine Grundlegende Reform im Christentum ist nicht möglich aber auch nicht nötig. Handelt ein Christ nach den Werten Christi wie dieser sie gelehrt hat, so braucht es keine Reform.

Du hast auch richtig erkannt das eine Grundsätzliche Reform nicht möglich ist, sofern die Religion noch nach Ihren Grundsätzen handelt, weicht sie davon ab, braucht es Reformen.

Eine Reform im Islam, damit er mit der Demokratie voll kompatibel wäre, wäre wünschenswert aber ist eine reine Träumerei von unseren Politikern. Der Wahabismus ist eine Reform zurück zu den Wurzeln des Propheten und solche Reformen wären für unsere Demokratie alles andere als wünschenswert.

Die Reform weg von den Aussagen des Propheten Mohammeds ist eher ganz unwahrscheinlich. Eine völlige Abkehr wäre aber nötig, damit eine Reform dem Westen und den Muslimen selbst etwas bringen würde. Du hast aber richtig gesehen, das wird es nicht geben.

Lg Kingdom

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Tyrion
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#174 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Tyrion » So 26. Mär 2017, 21:05

Agent Scullie hat geschrieben:Ich habe jetzt nicht den ganzen Thread durchgelesen, würde diese Thematik aber gerne noch einmal aufgreifen: eine Religion, sei es nun der Islam, das Christentum oder sonst eine religiöse Lehre, kann nicht reformiert werden. Auch das Christentum wurde nie reformiert. Was in Zusammenhang mit dem Christentum tatsächlich reformiert wurde, war nicht die Religion selbst, sondern einmal die religiöse Institution, also die Kirche, einmal in Form der Reformation zu Beginn zu des 16. Jahrhunderts und dann noch durch kleinere Reformen, und zum zweiten der Staat, indem er, was du, Tyrion, hier ansprichst, aufhörte, sich als weltlicher Verteidiger der Lehre Christi zu sehen, und seinen Bürgern die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährte (wie z.B. erstmalig unter Friedrich dem Großen, "In meinem Staat soll jeder nach seiner Fa­çon selig werden").

Wenn ich länger darüber nachdenke, muss ich dir prinzipiell recht geben, stimmt. Letzten Endes ist das ja eines der Grundproblemen von Buchreligionen, die sich auf eine Heilige Schrift beziehen, da sie (meist?) nicht reformierbar sind. Woberi Jesus der Sage nach das Judentum reformiert hat. Aber auch hier stimmt es ja nicht, denn das Judentum blieb erhalten und er hat nur eine neue Religion begründet.

In einem Punkt könnte man im Christentum aber von Reform reden: Man kann ohne der Bibel zu widersprechen, Jahwe in den Mittelpunkt rücken oder Jesus. Einige Christen nenne sich zwar "Christ", richten sich aber sehr nach Jahwe aus (unsere Evangelikalen hier), andere mehr nach Jesus. Je nach Zeitgesit überwiegt das Eine oder das Andere. Aus einem jahweistischen Christentum kann man durch Reform (also andere Schwerpunktsetzung bei der Bibelauslegung) ein neutestametarisches Christentum erzeugen.

Man kann ja auch hier im Trinintäts-Thread nachlesen, dass für manche Christen Jesus Gott ist, für andere nicht (und sie sich dennoch Christ nennen).

Und wie nun eine Heilige Schrift ausgelegt wird, entscheiden die Gralshüter der religiösen "Weisheit", also die Vorbeter, die Priester, die "Oberhirten". Hier kommt die Schnittmenge mit der Institution zum Tragen.

Übertragen wir das nun auf den Islam, so ist zunächst einmal festzustellen, dass es, zumindest im sunnitischen Islam, keine der Kirche vergleichbare religiöse Institution gibt, die reformiert werden könnte.

Dennoch gibt es hier auch Menschen, die die Richtung definieren, wie man welche Koransure und welchen Ausspruch des Propheten zu interpretieren hat. Es müsste folglich eine eigene Institution erschaffen werden (die erstmal nicht anerkannt wird, fürchte ich).

Was Reformen des Staates anbetrifft, so hat es die in diversen muslimisch geprägten Ländern auch schon gegeben, so z.B. in der Türkei unter Atatürk, auch wenn Herr Erdogan auch da an einer Gegenreformation arbeitet.

Klar - es geht ja auch um eine überstaatliche Reformation. So wird es heutzutage wohl nicht möglich sein, einen eigenen, großen, repressiven Kirchenstaat zu etablieren (den es ja mal gab - der Vatikan ist ja nur ein Rudiment davon, das übrig ist). Insofern hat sich (bis auf die radikalen Extremchristen) das gesamte Christentum in sich geändert. Auch in der Auslegung. Früher wurde das "Gewaltverbot" so nicht erkannt und gesehen, heute schon. Bereits so eine "Kleinigkeit" würde reichen (und hat beim Christentum halbwegs gereicht).

Fazit: eine Reform des Islam, d.h. der Religion selbst, kann es nicht geben, weil es die bei keinen Religionen geben kann, Reformen des Staates sind in muslimisch geprägten Ländern hingegen durchaus möglich, ebenso Reformen des Klerus, soweit ein solcher im Islam existent ist, wie etwa im Iran oder in Saudi-Arabien.

Das wäre traurig, weil sich dann nichts ändern würde. Der Islam könnte nur überstaatlich friedlicher ausgelegt werden, aus der Gemeinschaft der Gläubigen selbst getragen werden. Die Heiligen Schriften sind zumindest dermaßen widersprüchlich, dass man vom Gotteskrieger bis hin zum nächstenliebenden Pazifist alles herauslesen kann (egal, ob Moslem oder Christ betreffend). Da kann man anpacken. Leider auch in die Gegenrichtung, was der sunnitische Islam zeigt (z. B. IS) oder auch das Christentum ("widergeborene" Christen, andere radikale Sekten -die zum Glück offiziell nicht am Gewaltverbot nagen - wobei ich dem Braten da nicht traue).

Novas
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#175 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Novas » Mo 27. Mär 2017, 19:07

Agent Scullie hat geschrieben:Ich habe jetzt nicht den ganzen Thread durchgelesen, würde diese Thematik aber gerne noch einmal aufgreifen: eine Religion, sei es nun der Islam, das Christentum oder sonst eine religiöse Lehre, kann nicht reformiert werden.

Doch, denn es gibt eine geistige Evolution des Menschen ;) „die“ Religion gibt es nicht unabhängig vom Bewusstsein des Menschen. Deshalb ist die Religion exakt das, was der Mensch daraus macht. Eigentlich genügt doch nur ein Blick auf die Religionsgeschichte, um zu sehen, wie sich im Laufe der Zeit eine Entwicklung ereignet hat. Für Religion gibt es auch keinen Ersatz, meiner Ansicht nach. Die Naturwissenschaft kann nicht und wird niemals die Religion ersetzen, weil sie rein inhaltlich vollkommen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Allen Hochreligionen ist gemeinsam, dass sie den Tod nicht als das Ende unsrer Existenz verstehen, sondern als Durchgang, Transformation oder Metamorphose in eine neue Existenzform. Die Religion kann und darf so reden, eine meta-physische Perspektive und Sinndeutung vermitteln. Die Naturwissenschaft ist dazu kategorisch nicht in der Lage.

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fin
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#176 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von fin » Mo 27. Mär 2017, 19:29

»Noch vieles habe ich euch zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.«
(Johannes 16:12- 14)


"Daraus geht hervor, dass Mohammed der verheißene Tröster ist." Quelle: Muhammad in der Bibel


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#177 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Novas » Mo 27. Mär 2017, 19:43

fin hat geschrieben:
»Noch vieles habe ich euch zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.«
(Johannes 16:12- 14)


"Daraus geht hervor, dass Mohammed der verheißene Tröster ist." Quelle: Muhammad in der Bibel


So interpretieren es Muslime. Das ist sicher ein klassisches Beispiel dafür, wie unterschiedlich Menschen solche Worte interpretieren können :) darüber kann man sich endlos streiten, wenn man nur auf dieser Ebene verbleibt. Die entscheidende Frage ist - und dahingehend sollte es einen Wettstreit um das Gute unter den Religionen geben - wie kann der Mensch „das Heil“ erlangen und wie eine gerechte Gesellschaft erreichen? Wo Religion zur Ursache von Unheil wird, ist sie eher Teil des Problems, als ein Teil der Lösung. „Tantum religio potuit suadere malorum“ (De rerum natura 1, 101, Zu soviel Unheil konnte die Religion Anlaß geben), sagte der römische Dichter Lukrez nicht ganz unberechtigt. Das kann ich nachvollziehen. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Notwendigkeit für die Religion, die ich ebenso sehe. Die Religion spricht von den höchsten und edelsten Ideen, aber leider kann selbst das missbraucht und deformiert werden. Ich sehe es so: die Menschheitsfamilie braucht einen gemeinsamen weltweiten Ethos, wenn sie eine Zukunft haben will (siehe Projekt Weltethos)

Von der nihilistischen Geisteshaltung des Materialismus wird dieser mit Sicherheit nicht kommen. Wie sagte nicht schon der Iwan Karamasoff von Dostojewski: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt!“ - oder anders gesagt: ohne meta-physische Sinndeutung, ohne ein System transzendenter Werte und Ideale, die dem Menschen einen Platz in der größeren kosmischen Ordnung zuweisen, gibt es keine Grundlage für einen verbindlichen Ethos,schon gar nicht für einen Welt-Ethos, den wir aber benötigen.

„Eine Weltepoche, die anders als jede frühere geprägt ist durch Weltpolitik, Welttechnologie, Weltwirtschaft und Weltzivilisation, bedarf eines Weltethos.“ Hans Küng, 1993

Doch wie kommen wir zu einem Welt-Ethos? Ich denke, dass die Religion am ehesten von sich behaupten kann, die Wahrheit im höchsten Sinne zu spiegeln, die einen solchen die Menschen verbindenden Ethos am Besten vermittelt. Eloquente und erhabene Gedanken und theologische Systeme bringen im Grunde nichts, wenn sie sich nicht im Sein manifestieren. Christen haben da zum Glück ein ganz konkretes Vorbild, an dem sie sich orientieren können, wenn es um die Frage geht, was rechtes Sein und Tun, wahres Leben bedeutet:

Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Joh 14,6; EU)

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Tyrion
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#178 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Tyrion » Mo 27. Mär 2017, 22:22

Novalis hat geschrieben:[Ich sehe es so: die Menschheitsfamilie braucht einen gemeinsamen weltweiten Ethos, wenn sie eine Zukunft haben will

Da sind wir ja mal einer Meinung. Stimmt - wir brauchen eine gemeinsame Wertegrundlage, eine globale Ethik, die Leid mindern und Glück und Zufriedenheit fördern soll.

Von der nihilistischen Geisteshaltung des Materialismus wird dieser mit Sicherheit nicht kommen.

Und schon kommt ein abwertender Hammer. Mit welchem Recht spielst du dich als der auf, der "mit Sicherheit" weiß, dass säkular (ich versuche, deine Ismen mal außen vor zu lassen, insbesondere das beleidigende Verwenden von "Nihilismus") kein "Weltethos" generiert werden kann? Das diskreditiert deine "guten" moralischen Werte zu reinem Hochmut und sich über andere Stellen. Das ist ein Problem von Menschen, die meinen, sie seien wegen ihres Glaubens etwas besseres.

Wie sagte nicht schon der Iwan Karamasoff von Dostojewski: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt!

Darüber kann man in der Tat diskutieren. Wird Gott dafür gebraucht, durch (fiktive oder reale) Drohungen Menschen dazu zu zwingen, einen Moralcodex wie z.B. die 10 Gebote, für sich anzunehmen? Falls ja, wäre es traurig, da die Menschen dann nicht aufgrund von Verständnis dafür, warum ein Moralcodex nötig ist, diesen annehmen, sondern nur aus Angst. Und ja, dann kann, wenn man darauf kommen würde, dass Gott ja gar nicht existiert, als Gegenpol alle Grenzen und Werte verlieren. Deshalb gibt es ja weltliche Gesetze, die gegensteuern.

Ich für mich halte mich an Moralgrundsätze aus Überzeugung. Ich verstehe mich als einen Teil einer Spezies, die in Verbänden lebt und daher gewisse altruistische Grundsätze benötigt. Es würde schief gehen, wenn jeder nur seine persönlichen Ziele durchsetzen würde oder das wollte. Man kann da vieles an Verhaltensweisen aus der Kogik heraus begreifen. Das alles lehnst du beiläufig mit einem kleinen Satz, in dem du zwei Ismen verwendest, um all die Gedanken darum als grotesk darzustellen, ab.

Schöne Voraussetzung, um an einem Weltethos zu arbeiten. Deine ethischen Werte teile ich vermutlich nicht und ich bin dann froh, dass du nicht an so einem Projekt beteiligt bist. Meinungs- und Gedankenfreiheit gehören für mich nämlich auch dazu. Ebenso, Andersdenkende nicht abzuwerten und als minderwertig anzusehen.

- oder anders gesagt: ohne meta-physische Sinndeutung, ohne ein System transzendenter Werte und Ideale, die dem Menschen einen Platz in der größeren kosmischen Ordnung zuweisen, gibt es keine Grundlage für einen verbindlichen Ethos,schon gar nicht für einen Welt-Ethos, den wir aber benötigen.

Eine pure These, die ich nicht so teile. Leider begründest du diese These nicht.

„Eine Weltepoche, die anders als jede frühere geprägt ist durch Weltpolitik, Welttechnologie, Weltwirtschaft und Weltzivilisation, bedarf eines Weltethos.“ Hans Küng, 1993

Küng hat da sicherlich recht. Aber was hat das mit deiner (herablassenden) These zu tun?

Doch wie kommen wir zu einem Welt-Ethos? Ich denke, dass die Religion am ehesten von sich behaupten kann, die Wahrheit im höchsten Sinne zu spiegeln, die einen solchen die Menschen verbindenden Ethos am Besten vermittelt.

Auf der Ebene kann man diskutieren. (Endlich!) "Ich denke, dass..." klingt da besser als "Es ist völlig klar, dass...".
Ich behaupte, wer für sich die Wahrheit pachtet, der zeigt nur Hochmut und mangelnde Toleranz gegenüber anderen Denkmodellen. Gerade dann denke ich, dass Religionen am schlechtesten geeignet wären, einen Welt-Ethos auszuarbeiten.
Andererseits glaube ich nicht, dass jede Religion diesen absoluten Wahrheitsanspüruch behalten kann, wenn mehrere gemeinsaem ethische Werte ausarbeiten wollen.
Wenn dabei aber säkulare Strömungen ausgeschlossen werden (weil du beispielsweise festlegst, dass diese nicht taugen, da auch nur irgendwas beizusteuern), dann war's das mit dem Weltethos. Er sollte von allen gemeinsam getragen werden können.
Leider sind es aber gerade Religionen, die an und für sich bereits weitgehend anerkannte Grundlagen wie Menschenrechte oder Menschenwürde ablehnen (schau mal, was Evangelikale zu Menschenrechten und/oder Menschenwürde sagen - das sei ein gottloser Anthropozentrismus, der von Satan ausgeht und ähnliches).

Eloquente und erhabene Gedanken und theologische Systeme bringen im Grunde nichts, wenn sie sich nicht im Sein manifestieren.

Du meinst, dass sie von den Menschen, die sie betreffen, auch angenommen und getragen werden? Stimmt. Daher finde ich es so erbärmlich, dass du einen gar nicht so kleinen Teil der Menschheit kategorsich ausschließt und ihnen deinen Ethos überstülpen willst. Damit wäre das Projekt bereits von Anfang an gescheitert. Ich hoffe, Küng denkt da ein bisserl weiter als du.

Christen haben da zum Glück ein ganz konkretes Vorbild, an dem sie sich orientieren können, wenn es um die Frage geht, was rechtes Sein und Tun, wahres Leben bedeutet:

Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Joh 14,6; EU)

Dieser Satz von Jesus hilft keinen Deut weiter, was einen Weltethos betrifft. Hier geht es um Seelenheil oder irgendwas in der Art. Wieder mal ein frommer Spruch, der nicht weiterhilft. Damit willst du begründen, dass letzten Endes Christen allein prädestiniert für das Definieren eines Weltethos wären? Verstehe ich dich da richtig? Oder willst du nur sagen, dass Christen es einfach haben, weil sie Jesus als Vorbild für einen Weltethos haben?

Naja, wenn du meintst. Glauben kannst du es ja.

Weltethos nur durch Christen allein: das kann ich jetzt kategorisch ausschließen. Dafür ist das Menschenbild zu negativ und sind die vielen Regeln und Verbote zu extrem. Ich hoffe, dass sich Nichtchristen im Küngschen Projekt gut einbringen können, um da etwas gegenzusteuern. Sonst haben wir einen moralsichen Rückschritt in finstere Zeiten.
Zum Glück leben wir aber in einer Demokratie und es bedarf einer Mehrheit, die Ideen dieses "religiösen Think Tanks" anzunehmen. Ich hoffe dass wir stark genug sind, gegen extreme Moralvorstellungne, die christlich vielleicht wichtig sind, aber zu Druck und Leid führen (also einfach nur schlecht sind) argumentativ anzugehen, damit diese keine Mehrheit erhalten. Ich hoffe, dass die anderen Religionen hier Küng ausbremsen und der Kompromiss eher menschliche Züge zeigen kann. Wenn dann auch rein säkulare Vertreter beteiligt sind, word es vielleicht ein echter Kompromiss sein. Und der wird wenige, aber sehr wichtige Grundregeln aufstellen, dem Menschen sonst aber viel Freiheit(!) lassen.

Mir wird ganz anders, wenn ich solche Initiativen mitbekomme. Andererseits: laut der Website haben 1993 200 Vertreter der Weltreligionen unterzeichnet. Ich sollte mir mal die Zeit nehmen, die Erklärung durchzulesen. Da aber offenbar nur Religionsvertreter beteiligt waren, fürchte ich, dass da nichts Gutes bei rauskam. Und immerhin hat sich bis jetzt (2017!) das wohl nicht durchgesetzt.

Da kann ich noch durchatmen und hoffe, dass es auch in Zukunft nicht passiert. Ich setze da eher auf die UN und die Menschenrechtscharta. Da geht es wenigstens um Ethik und Menschen.

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#179 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Tyrion » Mo 27. Mär 2017, 22:51

Novalis hat geschrieben:ohne meta-physische Sinndeutung, ohne ein System transzendenter Werte und Ideale, die dem Menschen einen Platz in der größeren kosmischen Ordnung zuweisen, gibt es keine Grundlage für einen verbindlichen Ethos,schon gar nicht für einen Welt-Ethos, den wir aber benötigen.

„Eine Weltepoche, die anders als jede frühere geprägt ist durch Weltpolitik, Welttechnologie, Weltwirtschaft und Weltzivilisation, bedarf eines Weltethos.“ Hans Küng, 1993

So, ich habe mir jetzt die 16 Seiten des Welt-Ethos durchgelesen: http://www.weltethos.org/1-pdf/10-stift ... german.pdf

Gut, es sind 14, zieht man die erste und letzte Seite ab. Liest man sich durch das Gewirr wertender, teils auch Allgemeinplätze darstellender Textpassagen, so kommt man auf die insgesamt relativ wenigen Grundaussagen. Wobei das klar ist, denn es ist ja immer ein Konsens. Ich habe mit den ausschweifenden Texten manchmal durchaus ein Problem, da ich Aussagen wie
"Der Friede entzieht sich uns – der Planet wird zerstört – Nachbarn leben in Angst – Frauen und Männer sind entfrem- det voneinander – Kinder sterben! Das ist abscheulich!"

Zwar unterschreiben würde (dass es abscheulich ist, dass Kinder sterben müssen), aber "Nachbarn leben in Angst (usw.) ist doch sehr pauschal. Wie gesagt, denkt man sich diese Textmengen weg, bleiben die Kernaussagen.

Eine der Grundlagen ist die "Sittsamkeit". Diese wird nur grob benannt. So sollen auch die Wissenschaften auf Sittsamkeit achten und dürfen nicht alles erforschen, was man erforschen kann. Doch was ist Sittsamkeit und wer legt das fest? Man kann hier deutlich den christlich-islamischen Einfluss erkennen. Später wird es konkreter, wenn es zu Sexualität kommt.
Ich gehe davon aus, dass Homosexualität als nicht sittsam angesehen wird. Jedenfalls wird sie nicht erwähnt und nicht als Grundrecht angesehen. Es fehlen mir ohnehin Grundrechte. Selbst die körperliche Unversehrtheit wird nicht als Grundrecht angesehen:

"Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er
nicht die Rechte anderer verletzt.
"

Ob damit Notwehr gemeint ist? Oder doch Körperstrafen (spannend, darüber zu diskutieren).

Sittsamkeit wird auch sexuell vorgeschrieben und festgelegt, was passieren darf und was nicht. Freiwilligkeit spielt dabei (natürlich) keine Rolle. Wenn jemand beispielsweise freiwillig sexuell erniedrigt werden will, weil es ihm/ihr Lustgewinn bereitet, ist das egal, denn es ist allgemein nicht sittsam.

Kurz gesagt: Es klingt oft gut, wenn juristische Laien versuchen, Grundaussagen zu notieren, aber der Teufel liegt im Detail. Vieles ist sicherlich zu unterstützen, so z.B. dass man Andersgläubige nicht töten darf (von nicht gläubig wird natürlich nie gesprochen), aber wenn ich "Sittsamkeit" lesenmuss, sträuben sich mir die Nackenhaare. Da denke ich an die Sittenpolizei in Afghanistan unter den Taliban.
Hier fehlt der säkulare Einfluss, der auf Freiheit und Grundrechte aufbaut und nicht auf göttlicher Moral der Sittsamkeit.

Ich finde den Versuch, der Religionen, sich selbst zu beschränken und zu gegenseitiger Toleranz aufzurufen, aller Ehren wert. Aber die eigenen Moralvorstellungen auf alle Menschen anzuwenden, führt wieder zurück in alte Muster der Unterdrückung, denn es wird zu einer Moral- und Sittenpolizei kommen, wie sie in muslimischen Ländern üblich ist (auch im Iran als Beispiel).
Zudem ist interessant, wie sehr die muslimische Welt, deren Vertreter (wer hatte dazu den Auftrag?), die unterzeichnet haben, sich durchgesetzt haben. Wie tolerant wurde der Iran seit 1993? Was passierte im Irak und Syrien durch den IS? Saßen deren Vertreter mit amTisch (also entsprechende radikale Kräfte von damals als Vorläufer?). Ich denke mal: nein.

So kommt etwas heraus, von dem man sagen kann "gut gemeint, aber...". Im Detail finde ich manches zu religiös verbrämt und dadurch brandgefährlich. Ich habe etwas gegen Sittenpolizei iranischen Vorbilds. Je mehr ich über die Erklärung nachdenke, umso übler wird mir. Wie gesagt, zum Glück hat sich das nicht durchgetzt (im Detail) und leider hat es sich nicht innerhalb der Religionen durchgesetzt, was das Verfolgen Andersgläubiger angeht.

Übel, übel...

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#180 Re: Weltreligion Islam: Ist eine grundlegende Reform möglich?

Beitrag von Agent Scullie » Mi 29. Mär 2017, 12:30

Novalis hat geschrieben:
Agent Scullie hat geschrieben:Ich habe jetzt nicht den ganzen Thread durchgelesen, würde diese Thematik aber gerne noch einmal aufgreifen: eine Religion, sei es nun der Islam, das Christentum oder sonst eine religiöse Lehre, kann nicht reformiert werden.

Doch, denn es gibt eine geistige Evolution des Menschen ;) „die“ Religion gibt es nicht unabhängig vom Bewusstsein des Menschen. Deshalb ist die Religion exakt das, was der Mensch daraus macht. Eigentlich genügt doch nur ein Blick auf die Religionsgeschichte, um zu sehen, wie sich im Laufe der Zeit eine Entwicklung ereignet hat.
Wenn wir mit Religion die religiöse Lehre meinen, also das was in der Heiligen Schrift der betreffenden Religion, hier also des Korans, geschrieben steht, dann ist das, was der Mensch aus der Religion macht, nicht die Religion selbst, sondern deren Auslegung. Anders als die Religion selbst kann sich die Auslegung der Religion tatsächlich ändern.

Allerdings ist eine solche Änderung der Auslegung keine Reform. Zu einer Reform gehört, dass sie von einer zentralen Stelle ausgeht, z.B. dem Staat oder eine religiösen Institution, und man die Person eines Reformers oder einer Gruppe von Reformern ausmachen kann. Wenn einfach nur Anhänger einer Religion, hier die Muslime, ihre Religion anders auslegen als ihre Vorfahren es früher mal getan haben, dann gibt es da keine zentrale Stelle, und somit kann man nicht von einer Reform sprechen.

Mal ein Beispiel: im deutschen Strafrecht gab es bis in die 1970er Jahre den Straftatbestand der Kuppelei, wonach Eltern sich strafbar machten, wenn sie minderjährigen Kindern Liebesbeziehungen erlaubten. Dass von dieser Straftatbestand von seiten des Staates aus dem StGB entfernt wurde, war eine Reform. Etwa parallel änderten sich die in der Gesellschaft üblichen Ansichten darüber, ab welchem Alter Liebesbeziehungen zwischen Mädchen und Jungen akzeptabel seien - das war eine gesellschaftliche Umwälzung, aber keine Reform.
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