sven23 hat geschrieben:Das ist für Historiker Alltagsgeschäft, daß oft die Originalquellen verschollen sind und man nur noch Abschriften hat, die allen möglichen Veränderungen unterworfen waren.Man hat aber bei den Evangelien die "glückliche" Situation, daß es jede Menge Abschriften gibt, die man auch teilweise zeitlich einordnen kann.
Du hast das Entscheidende genau NICHT verstanden.
Normalerweise gibt es in der Literatur einen Original-Autor - derjenige, der "Hiltibrand" erstmals als Gedicht/Epos verfasst hat, oder derjenige, der die "Iljas" erstmals als Epos komponiert hat, etc. Davon kann es dann Abschriften geben, aus denen man Rückschlüsse auf den Ur-Autor ziehen kann, falls das Autograph nicht überliefert ist. - Das ist das Alltags-Geschäft, von dem Du sprichst.
Bei Jesus ist es aber eben genau NICHT so. - Die von Dir genannten 4680 Abschriften sind Abschriften nicht von einer Ur-Version, sondern von einer Rezeption. - Wo also die ersten Rezipienten Jesu Paradigmenwechsel nicht verstanden hätten, würde etwas Kontaminiertes abgeschrieben werden. - Da ist es dann wurscht, ob es 5 oder 4680 Mal abgeschrieben wird.
Und da ist eben mein Verdacht, dass die HKM mit dem "Fall Jesus" methodisch genauso umgeht, wie sie es im Alltagsgeschäft bei "Hiltibrant" und "Ilias" auch tun. - Und genau das wäre der Fehler. - Es wäre deshalb ein Fehler, weil der "Null-Punkt" ("Kalibrierung") nicht das Original ist, sondern eine Abschrift. Man tut also so, als sei die früheste Abschrift (ob man sie findet oder nicht) DIE Wahrheit: Was da steht = Jesus. - Logisch falsch.
sven23 hat geschrieben:Es gibt eine Transformation von einer jüdischen Sekte hin zu der paulinischen Christologie und schließlich zum späteren Dogmenkonstrukt der Kirche.
Glaube ich Dir unbesehen. - Die entscheidende Frage ist damit NICHT gelöst: Was ist näher an dem, was Jesus gemeint hat?
Genau darauf kann eben die beschriebene HKM-Methode KEINE Antwort geben, weil sie mit dem Begriff "Paradigmen-Wechsel des NT" nichts anfangen kann - das war eine Größe, die durch Jesus repräsentiert ist und eben NICHT durch die historisch beobachtbare Zeit - das war doch gerade der Gag von Jesus.
Und hier kommt dann bspw. die kanonische Exegese und sagt: "Liebe HKM, was Ihr beobachtet und beschreibt, ist super - wir übernehmen es gerne, weil es wirklich wichtig ist. - Aber die geistige Positionierung von Jesus kann nicht Euer Feld sein. - Also belasst es bei historischer Beschreibung". ---
Das heisst nicht, dass die kanonische Exegese recht hat - auch sie kann Jesus eine Haltung unterstellen, die nicht zutreffend ist. - Aber sie stellt wenigstens die richtige Frage: "Was hat Jesus SELBST gemeint".
Insofern ist der Jesus der HKM nicht der "historische Jesus", sondern der Jesus eines historisch-kritischen Modells, das Jesus aus Rezeptionen rekonstruiert - zutreffend oder nicht zutreffend. - Der kanonische Jesus kann insofern historisch zutreffender sein, dass sein geistiges Verständnis der Wirklichkeit Jesu näher kommt.
Diese Differenzierung scheint mir bei all den Diskussionen zu kurz zu kommen. - Es scheint viel mehr, dass es hier gar nicht um Jesus geht, sondern um einen Methoden-Kampf - also eigentlich einen inner-wissenschaftlichen Kampf, der mit dem "Objekt" Jesus relativ wenig zu tun hat.
sven23 hat geschrieben:Ich weiß, daß das gleich zu Beginn des neuen Jahres eine schwer zu schluckende Kröte ist.
Da gibt es nichts zu schlucken. - Meine obigen Ausführungen sollten logisch sauber klar gemacht haben, WER hier eine Kröte zu schlucken hat.