Wann hat Wahn religiösen Ursprung? Wo liegt die Grenze zwischen Politik und Religion?
Wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hielt sich der ungarische Schriftsteller und Journalist Sándor Márai in Berlin auf. “The Hungarien Quarterly†druckte damals seine in Ungarn erschiene Reportage “Der Messias im Sportpalast†ab. Die fünfundzwanzigtausend Plätze für Hitlers Auftritt sind schon mehrere Tage zuvor ausverkauft. Vier Stunden vor Beginn strömen Hunderte uniformierte Nationalsozialisten aus allen Teilen der Bewegung mit ihren Familien zu den Toren des Sportpalasts. Beim Einlass zwei Stunden vor Veranstaltungsbeginn postiert sich eine große Gruppe von SA-Leuten sorgfältig vor dem Podium.
Weitere NS-Uniformierte sichern die Flanken und den Durchgang zur Rednerbühne, der nun sichtlich eng geworden ist und der Schriftsteller an Wilhelm Tells Monolog denken lässt: “Durch diese hohle Gasse muss er kommen.†Als ausländischer Korrespondent darf er auch ganz nach vorne, eskortiert von einem SA-Mann, der eigentlich recht freundlich wirkt: “Wenn sie nicht gerade morden, können sie einen fast schon angenehmen Eindruck machenâ€, notier Márai. Eine Sirene kündigt an, dass Hitler auf dem Weg sei. Aufmarsch und Befehlsgeschrei seiner Getreuen, die hinter dem Podium mit Fahnen Aufstellung nehmen, unterbrechen die schlagartig eingetretene Stille. Die Spannung steigt, mehrere Besucher werden ohnmächtig und auf Tragbahren weggebracht - hier offenbar Routine. Bei der Ansage “Der Führer kommt!†erhebt sich die gewaltige Menge zum Hitlergruß und schreit immer wieder “Heil!†“Jetzt, wo ich das höreâ€, schreibt Márai, “wird mir der Erfolg der Nationalsozialisten schlagartig klar. So schreien nur Derwische oder Menschen in Todesverzweiflung.â€
Hitler mute wie ein Asket an, er wirke eher unmännlich. Nach kurzer Begrüßungszeremonie und dem Ausklang der Parteilieder sitzt er unbeweglich, in Gedanken versunken. Lange herrscht Stille: “Das hierâ€, so Márai, “ist weder Politik noch Parteiversammlung, sondern Religion, Anbetung.†Dann ergreife der Messias das Wort und wiederhole Phrasen, die seine Anhänger längst auswendig kennten. Seine Entourage: “Gesindel, standardisiert: organisierte Stupidität, mobilisierter Herdeninstinkt.†Spätestens jetzt beschleicht Márai das mulmige Gefühl, mit Tausenden von Irren eingesperrt zu sein. Unmittelbar nach Hitlers Rede verlässt der ungarische Gast fast schon fluchtartig die Veranstaltung. Draußen fallen ihm noch die auffallend zahlreichen Limousinen ins Auge: die dunkle Macht hinter dem NS-Mob.*)
*) Joseph Croitoru: Ein Messias im Sportpalast. Chamberlain, Lenin und Hitler: Totalitäre Versuchungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 02. Oktober 2007.
Erwin Chargaff schrieb mal, die Welt sei ein Irrenhaus. Er traute der Zukunft ganz und gar nicht. Glaubt hier im Forum tatsächlich jemand, dass der Aufstieg eines Politikers zum Messias heute nicht mehr möglich ist?