Wie denkst Du über Textkritik?

Rund um Bibel und Glaube
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Halman
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#1 Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Halman » Di 26. Apr 2016, 00:33

Die letzten Rätsel der Bibel, so lauter der Titel des Artikels Der WELT, indem es einleitend heißt:
Die letzten Rätsel der Bibel

Ein Institut aus Münster gilt als Mekka der Bibelwissenschaft. Dort wird nun der Urtext des Neuen Testaments aus Papyrusfetzen rekonstruiert. Das Ergebnis könnte selbst den Papst zum Umdenken zwingen.
Wenn es sein könnte, dass selbst der Papst umdenken muss, wie steht es dann mit uns? "Was machen die denn da mit unseren Bibeltext?", mögen manche sinngemäß denken. Auf dieses Befinden geht auch der Artikel ein:
Forschen die Deutschen die Bibel kaputt?

Er weiß, dass er sich mit seiner Arbeit auch Feinde macht. Konservative Christen etwa mögen es nicht, wenn das vermeintlich in Stein gemeißelte Wort Gottes auf einmal wandelbar erscheint. Textforscher wie Strutwolf sind ihnen ein Dorn im Auge. Eine Zeit lang rief ein Evangelikaler aus den USA in Strutwolfs Institut an und schimpfte, die Deutschen forschten die Bibel kaputt.

Ein Beispiel aus dem Abschnitt Frieden wird nur Auserwählten verkündet um deutlich zu machen, worum es geht:
Mit einer berühmten Stelle der Weihnachtsgeschichte muss es ähnlich gewesen sein. Über Jahrhunderte hinweg sangen in Luthers Übersetzung die Engel bei den Hirten: "Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber vertrauen Textkritiker den wenigen griechischen Handschriften, die das Wort "Wohlgefallen" als Genitiv überliefern: den Menschen des Wohlgefallens.
Wie denkt ihr darüber? Begrüßt ihr die Textkritik, oder missfällt sie Euch?

Holger Strutwolf v. d. Universität Münster sagt:
Textkritik bringt die Bibel zum Sprechen

Insgesamt ist die Überlieferung der Bibel sehr gut und sehr treu

Unser Anspruch ist es nicht, das Wort Gottes herzustellen. Wir erstellen eine Hypothese, wie der älteste Text des Neuen Testaments ausgesehen hat
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

closs
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#2 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von closs » Di 26. Apr 2016, 01:32

Halman hat geschrieben:Wie denkt ihr darüber? Begrüßt ihr die Textkritik, oder missfällt sie Euch?
Wenn Textkritik nichts als Wissenschaft ohne eigene spirituelle Stellungsnahme ist, kann sie nur gut sein. - Es kann nicht schaden, wenn sich Chiffren zur Erkenntnis Gottes mit der Zeit (und am Ende sogar durch bessere Erkenntnisse) ändern.

Die reale Gefahr besteht darin, wenn textkritische Auslegung als substantiell-inhaltliche Auslegung missverstanden ist. - Textkritik kann aus meiner Sicht die Basis stabilisieren und erweitern, auf der spirituell ausgelegt wird, darf aber diese Basis-Funktion nicht verlassen, wenn sie sich nicht als Wissenschaft verabschieden will.

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Münek
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#3 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Münek » Di 26. Apr 2016, 03:07

@ Lieber Kurt.

Ich befürchte, Du missverstehst den Begriff "Textkritik", denn diese hat mit der AUSLEGUNG biblischer Texte NICHTS zu tun.

Die "Textkritik des Neuen Testaments" ist laut Wiki eine wissenschaftliche Methode, die den Ausgangstext der verschiedenen Varianten der neutestamentlichen Texte zu rekonstruieren sucht. Sie ist ein Werkzeug der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung. Die Textkri-
tik versucht, den Bibeltext möglichst in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen
.

Also: Keine Auslegung von Texten, sondern Rekonstruktion von Texten. Keine Exegese, sondern Wiederherstellung der Ausgangstexte.

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Bastler
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#4 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Bastler » Di 26. Apr 2016, 11:05

Ich befürchte, dass eine Textkritik nicht das erbringt, was sich einige von ihr erhoffen.
Hinterher weiß man zwar, wie (und durch welchen Autor) ein Text entstanden ist, welche Anleihen er bei anderen Texten gemacht hat, wie er zusammengefügt wurde und welche Veränderungen er durchgemacht hat. Aber dann steht man eben mit diesem Wissen da - und was hat man davon?

Den Ruf, wissenschaftlich korrekt gearbeitet zu haben? Na toll.

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Bastler
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#5 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Bastler » Di 26. Apr 2016, 11:12

Münek hat geschrieben:Die Textkritik versucht, den Bibeltext möglichst in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen.
Wenn es denn eine solche ursprüngliche Form je gegeben hat. Hinter vielen schriftlichen Textstellen stehen riesige mündliche Überlieferungstraditionen. Und wenn man die erste schriftliche Fassung ausfindig gemacht hat, dann ist das keineswegs die Urform.

Aber selbst das Klären der ersten schriftlichen Fassung ist ein höchst unsicheres Geschäft.
Und wer sagt, dass die Urformen wirklich besser und verpflichtender seien, als spätere Versionen? Womöglich sind die späteren Versionen schlichtweg weiterentwickelt, präziser und reflektierter, als die Urform. Wahrscheinlich hat man neue Versionen angefertigt, weil man mit der alten nicht zufrieden sein konnte.

Der Irrglaube, dass ältere Versionen besser seien, ist eigentlich unsinnig.

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#6 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Bastler » Di 26. Apr 2016, 13:17

Halman hat geschrieben:Die letzten Rätsel der Bibel, so lauter der Titel des Artikels Der WELT, indem es einleitend heißt:
...
Forschen die Deutschen die Bibel kaputt?

Er weiß, dass er sich mit seiner Arbeit auch Feinde macht. Konservative Christen etwa mögen es nicht, wenn das vermeintlich in Stein gemeißelte Wort Gottes auf einmal wandelbar erscheint. Textforscher wie Strutwolf sind ihnen ein Dorn im Auge. Eine Zeit lang rief ein Evangelikaler aus den USA in Strutwolfs Institut an und schimpfte, die Deutschen forschten die Bibel kaputt.
Wenn Forschung die Macht hat, die Bibel kaputt zu machen, dann kann es mit der Bibel eben nicht weit her sein.
Damit haben aber eher us-amerikanische Biblizisten ein Problem.

Was allerdings den Glauben zerstören kann? Wenn man sich von einer historisch-kritischen Untersuchung der Bibel eine Förderung der bisherigen Ansichten erhofft - und dann enttäuscht wird. Großflächig kommt beim historisch-kritischen Umgang mit der Bibel heraus, dass viele Texte heute nicht so verstanden werden, wie sie in ihrer Entstehungszeit gemeint waren. Zum Beispiel war sehr vieles, was wir heute ganz selbstverständlich als historisches Ereignis lesen, gar nicht als Widergabe historischer Abläufe gemeint, sondern eher als Ermutigung oder Propaganda. Oder ein biblischer Schriftsteller erzählt eine Geschichte so, wie sie zwar gar nicht abgelaufen ist, aber seiner Meinung nach hätte ablaufen sollen.

Was das Vertrauen auf die Bibel tatsächlich zerrütten kann, ist die Erkenntnis, dass die Texte nicht unmittelbare Äußerungen Gottes sind. Die Befehle Gottes wurden zum Beispiel zwar als Befehle Gottes niedergeschrieben, wurden aber nie von Gott direkt vom Himmel herunter gegeben. Sondern jemand hat eine Geschichte erfunden, in der Gott Befehle gibt, die der Autor eben als göttliche Gebote einschätzte.

Und damit wird die Bibel unbrauchbar - unbrauchbar als Direktverbindung mit Gott (unter Umgehung der Inkarnation).
Was wir lesen, ist nicht einfach nur Gottes Wort, sondern ist das, was Menschen über einen langen Zeitraum hinweg als Gottes Wort einschätzten.
Und damit ist der Leser auf die Gutwilligkeit und religiöse Tiefe menschlicher Autoren angewiesen. Und er bleibt darauf angewiesen - auch wenn er lieber einen direkten Draht zu Gott hätte. Diesen direkten Draht gibt es eben nicht.

Damit geht ein Glaube an ein Buch voller Gottes-Unmittelbarkeit zu Grunde.
Und das finde ich gut. Denn es handelt sich meiner Meinung nach um einen Irrglauben. Wir werden Gott immer nur "inkarniert" wahrnehmen. Wenn wir keine Antenne für diese Vermittlung (durch Bibelautoren, biblische Gestalten, aber auch Heilige, Wunderwerke in der Natur ...) haben und wir nicht in all diesen Vermittlungen Gott erkennen können, gehen wir leer aus. Und dies beobachte ich bei ganz vielen Menschen: Leer ausgegangen, weil sie eine absolut sichere und unmittelbare und göttliche Lehr-Quelle gesucht haben, die Gott niemals geben wollte. Sie gehen an Jesus vorüber und entdecken, dass er ein Mensch war. Und übersehen, dass ihnen in Jesu Menschlichkeit das Göttliche offenbart wird.

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#7 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von 2Lena » Di 26. Apr 2016, 19:13

Bastler hat geschrieben: Sondern jemand hat eine Geschichte erfunden, in der Gott Befehle gibt, die der Autor eben als göttliche Gebote einschätzte. Und damit wird die Bibel unbrauchbar - unbrauchbar als Direktverbindung mit Gott (unter Umgehung der Inkarnation). Was wir lesen, ist nicht einfach nur Gottes Wort, sondern ist das, was Menschen über einen langen Zeitraum hinweg als Gottes Wort einschätzten.
Mach das, bitte, ein bisschen deutlicher.
1) Wie wir seit den Funden von Qumran seit Jahrzehnten wissen, ist die Überlieferung der Bibel recht gut abgelaufen. Es kommen - durch das große Interesse an den alten Dokumenten - viele Abschriften wieder in den Vergleich. Auch das ist erst in heutiger Zeit mit größeren Möglichkeiten zum Informationsaustausch machbar. Hier ist also wirklich wissenschaftliche Arbeit und auch die Katalogisierung gefragt.

2) Was bis in die heutige Zeit hinein an Bibeltexten gelesen wird, ist jedoch ein anderes Thema. Schon allein die verschiedenen Übersetzungen zeigen etwas vom Stil der Vorstellung. Man fand im vorigen Jahrhundert recht merkwürdige Frmulierungen. Diese waren textgenau, aber sie konnten den Inhalt nicht in die andere "Sprache" umsetzen. Kein Engländer wird "mirroregg" (Spiegelei) verstehen, sondern irgendwas mit Spiegeln zusammendichten. Nun machte man aus den biblischen Geschichten "Erzählstoff". Dabei gibt es dort mehr Dimensionen. Eine "Textkritik" kann somit auf Grund der Auswirkungen und des Verständnisses ein etwas deutlicheres Bild bringen.

Jede Lehre verändert sich ab der Quelle. Nimm z.B. etwas von der EDV. Gelernt wurde anfangs umständlich, wie Schaltungen für indexsequentielle Speichermethoden gemacht werden können, welche Verdrahtungen möglich sind. Das weiß heute kein Mensch mehr. Keiner rechnet mehr binär oder hexadezimal. Dreijährige setzen sich an den Computer. Sie haben abgeschaut, wie sie ein paar Tasten drücken können. Sie wissen allerdings nicht wie er funktioniert und können auch die Teile nicht auseinanderschrauben. Selbst die Hersteller drucken irgendwelche Schaltelemente, ohne sie auswendig zu kennen. In dieser Phase spielt bei einem Schulkind, das den Computer einschalten kann, nur das Wort der Eltern die Rolle. Entsetzt steht es dann beim Nachbarn, der sich locker über deren (oft unvollkommenes) Gerede hinwegsetzt - einfach weil wer weiß - wie es geht.

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#8 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von closs » Di 26. Apr 2016, 20:08

Münek hat geschrieben:Ich befürchte, Du missverstehst den Begriff "Textkritik", denn diese hat mit der AUSLEGUNG biblischer Texte NICHTS zu tun.
JA - da hast Du recht. - Halman hat seine Fragestellungen aber in Inhalte hinein formuliert (so habe ich ihn verstanden), so dass ich ihm tatsächlich (absichtlich) in Richtung "HKM" geantwortet habe. - Verfolge mal weiter, wie sich das Gespräch entwickelt - und dann sprechen wir uns wieder. ;)

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Münek
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#9 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von Münek » Di 26. Apr 2016, 21:10

Bastler hat geschrieben:
Münek hat geschrieben:Die Textkritik versucht, den Bibeltext möglichst in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen.
Wenn es denn eine solche ursprüngliche Form je gegeben hat. Hinter vielen schriftlichen Textstellen stehen riesige mündliche Überlieferungstraditionen. Und wenn man die erste schriftliche Fassung ausfindig gemacht hat, dann ist das keineswegs die Urform.
Selbstverständlich muss es zum jeweiligen Text eine Urfassung gegeben haben. So wie ich als Laie die Textkritik verstehe, versucht sie bestmöglich (und ausschließlich), dem ursprünglichen TEXT (= Originaltext des jeweiligen Verfasssers) möglichst nahe zu kommen. Die Erforschung der hinter den Texten stehenden MÜNDLICHEN Überlieferungstraditionen gehört dagegen NICHT zum Aufgabenbereich der Textkritik.

Bastler hat geschrieben:Aber selbst das Klären der ersten schriftlichen Fassung ist ein höchst unsicheres Geschäft.
Zustimmung - es gibt hier keine Gewissheiten.

Bastler hat geschrieben:Und wer sagt, dass die Urformen wirklich besser und verpflichtender seien, als spätere Versionen? Womöglich sind die späteren Versionen schlichtweg weiterentwickelt, präziser und reflektierter, als die Urform. Wahrscheinlich hat man neue Versionen angefertigt, weil man mit der alten nicht zufrieden sein konnte.
Die Änderung der ursprünglichen Texte würde ich unter dem Begriff "FÄLSCHUNG" subsumieren. Kopisten haben nichts am Text zu verändern/zu "verbessern".

Der Irrglaube, dass ältere Versionen besser seien, ist eigentlich unsinnig.
Das Wort "besser" ist hier fehl am Platz. Was heißt schon "besser"? Im Übrigen: Stelle Dir mal vor, ein Kopist des "Faust" würde Passagen des ursprünglichen Goethe-Textes nach seinem Gusto verändern. Völlig unmöglich!

closs
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#10 Re: Wie denkst Du über Textkritik?

Beitrag von closs » Di 26. Apr 2016, 21:55

Münek hat geschrieben:Die Änderung der ursprünglichen Texte würde ich unter dem Begriff "FÄLSCHUNG" subsumieren. Kopisten haben nichts am Text zu verändern/zu "verbessern".
Und was ist, wenn es keinen "ursprünglichen Text" gibt, sondern lediglich schriftliche Fassungen mündlicher Überlieferungen? - Zwei Möglichkeiten (auf das NT bezogen):
* Man unterscheidet einfach wertfrei zwischen früheren und späteren Schriften - dann gibt es keine Fälschungen.
* Man kalibriert hilfsweise die älteste schriftliche Quelle als "ursprünglichen Text", macht also nicht das Thema "Jesus" zum Orientierungspunkt, sondern eine Jesus-Rezeption - dann ist alles, was von der ältesten Quelle abweicht, eine "Fälschung".

Das sind textkritisch nicht einfache Konstellationen.

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