Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

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Halman
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#11 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 19:18

Pluto hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Für den Fall, dass Deine Prämissen in deinem fett hervorgehobenen Absatz zutreffen. Kannst Du dies belegen? I
Ich habs zwar nicht gelesen, aber ich vermute hier findest du die Antworten auf deine Zweifel: http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM
Genau da liegt doch der Hase im Pfeffer, lieber Pluto. Ich frage nach der Bedeutung der kanonischen Exegese und Du verlinkst mir eine Quelle zum Katechismus.
Ein Katechismus ist eine systematische Zusammenstellung der Glaubens- und Sittenlehre als Grundlage für die religiös-sittliche Unterweisung. Er wird in Form von Frage und Antwort, in Lehrstücken oder in biblischen Geschichten mit Katechismuswissen verknüpfend, dargestellt.
Vielen Dank für Deinen Link, in einem geeigneten Thread können wir gerne darüber reden. Genug Gesprächsstoff gäbe es da sicher. Doch der katholische Katechismus ist kein Synomym für die kanonische Exegese.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Lena
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#12 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Lena » Do 31. Mär 2016, 19:30

Danke Halman. Du hast es versucht. Viel Freude weiterhin in Deiner mir verschlossenen Welt ;).
Kannst du mir helfen, dich richtig zu verstehen?
Erbreich 

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Halman
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#13 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 19:58

Lena hat geschrieben:Danke Halman. Du hast es versucht. Viel Freude weiterhin in Deiner mir verschlossenen Welt ;).
Werf doch nicht gleich die Flinte ins Korn. :Herz:

Man kann die Bibel als willkürliche, lose Zusammenstellung nicht zusammenhängender Schriften betrachten und so sagen: Die Psalmen haben nichts mit Markus zu tun usw.
Interessanterweise erklärte ein Theologie in einem theologischen Gesprächskreis, an dem ich teilnahm, dass die Kreuzigungsgeschichte des Markusevangeliums nach Psalm 22 "komponiert" sei. Wenn das stimmt, so bezog sich "Markus" offenbar auf den Davidpsalm, dieser gehörte für ihn zum "Kanon" (zu seiner Zeit bestand m.W. bereits der Protokanon der jüdischen Bibel).

Man kann die Bibel auch im Gesamtkonxt als Bibelkanon sehen und offenbar verstehen dies die Leute, welche die hier verlinkte Bibelübersetzung mit den vielen Links zu anderen Bibelbüchern (Querverweise zu anderen Stellen des Kanons) erstellten, in dieser Weise.
Wie werden die kanonischen Schriften (also die Bibelbücher) von den Christen im Laufe der Jahrhunderte interpretiert? Welche Bedeutung hat der Kanon für die Glaubensgemeinschaft? Solche Fragen kann man nur stellen, wenn überhaupt ein Kanon vorausgesetzt wird und dieser besteht ja in Form der Bibel.
Dabei ist es vom Grundsätzlichen her nicht entscheidend, ob diese Schriften von Anfang an eine Einheit bildeten oder ob diese erst später von der Glaubensgemeinschaft vorausgesetzt wurde, der Bibelkanon kristallisierte sich heraus und wird von der Glaubensgemeinschaft emfpangen und gedeutet. Diese Rezeption (Empfang) der Glaubensgemeinschaft ist meines Wissens Forschungsgegenstand der kanonischen Exegese.

Savonlinna erklärte dies am Beispiel von Goethes "Faust". Denke nur an alte Filme, die bei ihrer Uraufführung vermutlich sehr modern wirkten und heute retro erscheinen. Die Rezeption der Filme ändert sich im Laufe der Zeit. Dies kann man erforschen.
Bei religionsen Schriften hat es natürlich eine theolgische Bedeutung, wie die zugrundeliegenden Schriften im Lauf der Geschichte der Glaubensgemeinschaften gedeutet wurden. Dazu muss natürlich klar sein, von welchen Schriften man spricht. Im Christentum sind dies die 66 bis 73 Bibelbücher der Bibel (die katholische Bibel hat sieben Bücher mehr, die sog. Deuterokanonischen Schriften).
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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Thaddäus
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#14 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Thaddäus » Do 31. Mär 2016, 20:27

Lieber Halman,
zunächst einmal vielen Dank für die Arbeit, die du dir mit dieser schönen Zusammenstellung, gemacht hast. Leider kann ich im Augenblick nur sporadisch antworten, denn ich packe schon für meine Heimreise. (Unter Umständen muss ich allerdings noch 1-2 Monate aus beruflichen Gründen bleiben, aber das ist noch nicht entschieden).

Halman hat geschrieben: [...]
Mir gefällt diesbezüglich die Herangehensweise des Exegeten Prof. Erich Zenger, denn: Schriftauslegung ist mehr als profane Wissenschaft.
[...]

Der Gefahr der Nivellierung und des Fundamentalismus, den die kanonische Bibelauslegung in sich trage, müsse die historische Bibelauslegung entgegenwirken. „Deshalb brauchen wir beide Formen der Schriftauslegung. In methodentechnischer Sprache heißt dies: Wir brauchen die diachrone und die synchrone Bibellektüre. Wir brauchen die alten und die neuen Wege christlicher Schriftauslegung.“
(Zengers wörtliche Rede habe ich durch Textformatierung hervorgehoben.)

Die Methoden müssen also gar nicht miteinander konkurren, sie können sich auch gegenseitig fruchtbar ergänzen.

[...]
Die kanonische Perspektive war auch über die Jahrhunderte hinweg eine im Christentum übliche Leseweise, deren Basisaxiom lautete: Sacra Scriptura sui ipsius interpres. [...] Aber ich möchte festhalten, dass die Option des Papstes für die kanonische Lektüre bibel- und kulturwissenschaftlich begründbar ist.[/color]
Ausführlicher ist seine Erörterung: IV „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers / Einleitung
Ich habe mir vor allem die verlinkte Diss. von Volker Jastrzembski angesehen und darin besonders IV.2.6 Theologische Interpretation als leserorientierte Auslegungsweise. Die Hermeneutik der kanonischen Dialogizität .

Zunächst fällt mir bei dem Alttestamentler Zenger Folgendes auf:
Das alte Testament bewusst mit in den Kanon aufzunehmen, war eine frühe Entscheidung der Kirche und richtete sich dezidiert gegen z.B. Marcion, der den theologischen Bruch zwischen den religiösen Vorstellungen des alten und des neuen Testamentes als besonders gravierend empfand und deshalb das gesamte AT nicht in einen christlichen Kanon aufnehmen wollte. Andererseits ist Jesus unzweifelhaft Jude und schon dadurch existiert eine Verbindung zwischen AT und NT. Im weiteren Verlauf der Überlieferung wurden dann auch die prophetischen Aussagen des AT auf Jesus, den Christus, bezogen (was die jüdische Theologie natürlich nicht tut und auch gar nicht tun kann, denn sonst müssten ja alle Juden konsequenterweise Christen werden).
Es verwundert mich deshalb etwas, dass Zenger betont, in engem Dialog mit dem Judentum zu stehen und er sich auch auf diesen Dialog bei seiner Verteidigung der kanonischen Exegese beruft, denn der Widerspruch zwischen christlichem und jüdischem Glauben ist logischerweise unauflöslich (die Juden glauben eben nicht, dass Jesus der Messias ist).

Heute ist es in der ev. wie kath.Theologie Allgemeingut, das alte und das neue Testament als eine für den christlichen Glauben unabdingabre Einheit zu betrachten. Insofern ist Zengers kanonischer Ansatz, diese Einheit nochmals zu betonen und seine Forderung, dies bei der Exegese auch neutestamentlicher Schriften zu beachten, nicht außergewöhnlich. Ich schätze, diese Ansicht wird heute von praktisch allen Theologen geteilt.

Der zum Urketzer erklärte Marcion hatte freilich nicht ganz unrecht mit seiner Ablehnung einer Relevanz des AT für die Christen, denn jedem Leser des AT und des NT muss auffallen, wie gravierend unterschiedlich allein die Gottesvorstellungen in den beiden Testamenten sind: Im AT ist YHWH an zahllosen Stellen noch ganz der gewalttätige und brutale Wetter- und Kriegsgott der Israeliten, während er im NT von Jesus mit abba (Vater) angeredet wird (was mit hoher Wahrscheinlichkeit historisch ist, weil ganz und gar neu und ungewöhnlich) und YHWH zu einem Gott der Liebe wird.
Natürlich wird diese Wendung um 180° christlich damit begründet, dass ein neuer Bund zwischen Gott und der Menschheit geknüpft wird. Dies ist zentraler Bestandteil christlichen Glaubens. Aber dennoch ist der Gott des AT ein ganz anderer, als der Gott des NT. Es ist ausgesprochen schwierig, diesen Widerspruch irgendwie zu glätten.

-------------------------------------------------

Doch nun zum Eigentlichen: Ich musste nicht lange suchen, um die wissenschaftlich prekäre Prämisse der zengerschen kanonischen Exegese in der Wiedergabe Jastrzembskis zu finden. Sie zeigt sich in dieser Formulierung:

Zenger hält diesen Sachverhalt mit einem Zitat von Georg Steins fest: „Die biblischen Schriften werden nicht erst zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon. Die kanonische Qualität der biblischen Texte ist daher kein Gesichtspunkt neben anderen, sondern hat die Auslegung von Anfang an zu bestimmen ...“. [ IV „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers / Einleitung]
Wenn ich diese Annahme richtig verstehe, besagt sie nicht weniger, als dass bereits die altestamentlichen Autoren ihre Schriften - wissentlich oder unwissentlich - in einer Art Vorausschau oder Vorahnung auf das NT hin ursprünglich verfasst haben, also daraufhin verfasst haben, dass sich Jesus als der bereits im AT verheissene Messias erweisen wird ("... sondern sie entstehen als Kanon"). Und dies soll - nach Zenger/Ratzinger - die Basisprämisse der kanonischen Exegese sowohl der AT-Autoren, als auch der NT-Autoren sein.

Dieser Prämisse aber, und da bin ich mir ziemlich sicher - kann weder die Mehrheit der ev. noch der kath. Spezialisten und Exegeten des AT und NT folgen.

Historisch-kritisch betrachtet ist diese exegetische Prämisse schon allein deshalb hochproblematisch, weil einige berühmte Erzählungen des AT, wie die Sintflutgeschichte, der Bau der Arche (-Noah) oder die Aussetzung Moses in einem Bastkorb sowie seine Auffindung durch eine Königstochter, nachweislich viel älteren alt-babylonischen, sumerischen und akkaddischen Ursprungs sind (Gilgamesh-Epos u.a.), die die Autoren des AT lediglich übernommen haben. Die Basisprämisse Zengers und Ratzingers in der kanonischen Exegese besagt also, dass schon viel ältere babylonische u.a. Autoren ihre Geschichten verfasst haben müssen in Bezugnahme auf ein christlichen Heilsgeschehen, von dem diese Autoren keinen blassen Schimmer haben konnten.
Man kann selbstverständlich daran glauben, dass babylonische Autoren irgendwie in christliches Heilsgeschehen verflochten sind. Aber wissenschaftlich irgendwie plausibel zu machen, ist das, meiner Ansicht nach, nicht.
Zuletzt geändert von Thaddäus am Do 31. Mär 2016, 23:02, insgesamt 1-mal geändert.

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#15 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » Do 31. Mär 2016, 22:07

Halman hat geschrieben:Im oben zitierten Abschnitt habe ich einen Satz von Dir farblich hervorgehoben, welcher meiner Meinung nach den "Nagel auf den Kopf" trifft. Es geht also gar nicht darum, ob die Zusammenstellung des Bibelkanons in der Antike wissenschaftlichen Kriterien genügt oder nicht, oder ob die Bibel selbst wissenschaftlich ist oder nicht (in beiden von mir genannten Fällen müsste man die Wissenschaftlichkeit meiner Meinung nach verneinen*), sondern einzig und allein darum, ob die kanonische Exegese mit wissenschaftlicher Systematik erfolgt oder nicht, ob also die Forschung über den zu untersuchenden Gegenstand, dem Bibelkanon, wissenschaftichem Ansprüchen genügt oder nicht.
Ja. Im Prinzip, ja.

Ich möchte trotzdem noch einmal - um der Klarheit der Begriffe willen -, deutlich unterscheiden:

a. Rezeptioonsgeschichte / Geschichte der kanonischen Exegesen
b. Methodik der Rezeptionstheorie in Abgrenzung von allen anderen Interpretationstheorien / Methodik der kanonischen Herangehensweise in Abgrenzung von allen anderen theologischen Herangehensweisen
c. Die Rezeptionsanalyse selber / Die Kanonexegese selber

a. und b. sind zweifellos wissenschaftliche Bearbeitungsfelder, die, wenn die Darlegung der Themen nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt, an die Universiäten gehören.
Bis hierhin habe ich nur a. diskutiert.
Direkt danach habe ich Punkt b thematisiert und in beiden Fällen gezeigt, dass innerhalb der Literaturwissenschaft sowohl die Rezeptionsgeschichte als auch die Interpretations-Methodik selbstredend wissenschaftlich behandelt werden kann und auch muss.

Deine folgenden Fragen, Halman, warum da soviele Missverständisse oder Anklagen vorliegen, lassen sich vielleicht dadurch zumindest klären, wenn man berücksichtigt, dass Punkt c. der schwierigste ist.
Den habe ich aber erst am Ende behandelt, allerdings nicht mehr sehr gründlich, weil ich weg musste.

Mir liegt aber sehr daran, auch in diesem Gestrüpp nach Möglichheit Klarheit zu bekommen, also zu untersuchen, wann eine konkrete Interpretation/Exegese wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, wann nicht.

Dazu, also zu diesem Punkt c - Rezeptionsexegese selber - werde ich dann extra noch mal was schreiben, im Moment nur soviel:
Wir unterscheiden an der Uni Forschung und Lehre.
Der Herr oder die Frau Prof lehren, und die Studenten lernen, was gelehrt werden kann.
Die Studenten forschen nicht selber, sie lernen lediglich das Instrumentarium, mit dem sie nach dem Studium gegebenenfalls dann selber forschen können.
Forschen tun die Professoren oder sonstigen ausgebildeten Wissenschaftler.

Wenn wir hier im Forum also untersuchen wollen, ob kanonische Exegese - Punkt c. - überhaupt wissenschaftlich sein kann, dann müssen wir
1. untersuchen, welche Methoden die Studenten desbezüglich lernen und ob diese wissenschaftlich sind bzw. sein können, und
2. ob das, was die Professoren an kanonischer Forschung veröffentlicht haben, wissenschaftlich ist oder zumindest wissenschaftlich sein kann.

Mein Anliegen im Moment ist lediglich, zu untersuchen, ob a., b. und c. wissenschaftlich sein können und aufzuzeigen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie wissenschaftlich sind.
Zu Punkt c. dann also in einem Extra-post.

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#16 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » Do 31. Mär 2016, 22:44

Zu Punkt b. gehört wohl diese Deine Frage, Halman:

Halman hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Noch mal zur Klarheit: die Darlegung innerhalb einer wissenschaftlichen ist immer gleich, die Anforderungen gelten für sämliche Themen und Methoden.
Also die Anwendung der Rezeptionstheorie unterscheidet sich in der Form der Darlegung überhaupt nicht von einer Anwendung der immanenten Methode oder der strukturalistischen Methode. In allen diesen Fällen muss korrekt belegt werden, muss Komplettheit angestrebt werden, dürfen Vorlieben keine Rolle spielen etc.
Die Begriffe immanenten Methode und strukturalistische Methode sind mir neu. Darf ich Dich bitten, diese Begriffe so einfach und kurz wie möglich zu erläutern, damit die Usergemeinde und ich verstehen, wovon hier die Rede ist?
Mit "immanent" meinte ich "werkimmanent", das wäre der richtige Fachbegriff dafür.

Die werkimmanente Methode analysiert nur das Werk selber, vornehmlich in seiner Struktur: klärt das Arsemal der Personen, also wie die Personen gewählt wurden und einander variieren oder kontrastieren; untersucht die zeitliche Struktur: ob es Rückblenden gibt, Vorausschau, ob bestimmte Zeiträume gerafft oder gedehnt werden - was eine Aussage über die Gewichtung der Themen wäre; was die Schauplätze sind und wie sie in Bezug zueinander stehen; Erzählperspektiven; Erzählebenen; die Frage nach Realistik; Motivik; Komposition insgesamt usw. -

also alles Sachen, wo ich nichts über den Autor wissen muss, wo ich nichts über die Epoche wissen muss, in der das Werk geschrieben wurde.
Ich konzentriere mich allein auf das Werk selber in seiner Komposition und hole alllein aus der Analyse dieser Komposition meine Interpretation.

Die strukturalistische Interpretationsmethode ist nicht so ausgearbeitet wie die werkimmanente und ist von Haus aus Sprachtheorie, ist aber von vielen Wissenschaften analog übernommen worden.
Einer der Grundgedanken ist die Opposition: dass jedes Element durch seine Opposition mitbestimmt ist. Die Farbe Weiß werde nur wahrgenommen, weil wir NIcht-Weiß damit in Zusammenhang wahrnehmen. Würden wir das eine nicht wahrnehmen können, könnten wir das andere auch nicht wahrnehmen.

Wie diese Oppositionen dann analog im literarischen Werk behandelt werden - ob sie beide besetzt sind, also im Werk vorkommen, und wie sie behandelt werden - wertemäßig -, ist dann bereits ein Ansatz zur Interpretation.
Im "Goldenen Topf" von E.T.A. Hoffmann wird beispielsweise ein Archivar, der in Wirklichkeit ein Feuergeist ist, positiv besetzt - sein Gegenpart, eine alte Äpfelfrau, die in Wirklichkeit ein erdiger Geist ist, wird als böse dargestellt.
Das könnte in der Interpretation dann heißen, dass die Erde nicht mehr als positive Essenz gesehen wird, sondern als Feind. Oder auch: der Körper als Feind.

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Halman
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#17 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Fr 1. Apr 2016, 01:08

@Savonlinna
Vielen Dank für Deine Mühe und Deine fundierten Antworten.

Thaddäus hat geschrieben:Lieber Halman,
zunächst einmal vielen Dank für die Arbeit, die du dir mit dieser schönen Zusammenstellung, gemacht hast. Leider kann ich im Augenblick nur sporadisch antworten, denn ich packe schon für meine Heimreise. (Unter Umständen muss ich allerdings noch 1-2 Monate aus beruflichen Gründen bleiben, aber das ist noch nicht entschieden).
Danke, liebe Thaddäus. Ich weiß, dass Du es nicht immer leicht mit mir hast. ;) Ich danke Dir für Deine detaillierte Antwort.

Thaddäus hat geschrieben:Ich habe mir vor allem die verlinkte Diss. von Volker Jastrzembski angesehen und darin besonders IV.2.6 Theologische Interpretation als leserorientierte Auslegungsweise. Die Hermeneutik der kanonischen Dialogizität .

Zunächst fällt mir bei dem Alttestamentler Zenger Folgendes auf:
Das alte Testament bewusst mit in den Kanon aufzunehmen, war eine frühe Entscheidung der Kirche und richtete sich dezidiert gegen z.B. Marcion, der den theologischen Bruch zwischen den religiösen Vorstellungen des alten und des neuen Testamentes als besonders gravierend empfand und deshalb das gesamte AT nicht in einen christlichen Kanon aufnehmen wollte. Andererseits ist Jesus unzweifelhaft Jude und schon dadurch existiert eine Verbindung zwischen AT und NT. Im weiteren Verlauf der Überlieferung wurden dann auch die prophetischen Aussagen des AT auf Jesus, den Christus, bezogen (was die jüdische Theologie natürlich nicht tut und auch gar nicht tun kann, denn sonst müssten ja alle Juden konsequenterweise Christen werden).
Es verwundert mich deshalb etwas, dass Zenger betont, in engem Dialog mit dem Judentum zu stehen und er sich auch auf diesen Dialog bei seiner Verteidigung der kanonischen Exegese beruft, denn der Widerspruch zwischen christlichem und jüdischem Glauben ist logischerweise unauflöslich (die Juden glauben eben nicht, dass Jesus der Messias ist).
Zenger verstehe ich so, dass er gar nicht vor hatte diesen Widerspruch aufzulösen und Judentum und Christentum zu einer Religion zu harmonisieren, sondern die Spannungen um die verschiedenen Gottesbilder gelten zu lassen. Am besten lasse ich in selbst "sprechen", indem ich ihn zitiere.
Ein alter Freund von mir wies mich auf die PDF-Dateien von Zenger hin. Falls Du sie im Internet finden willst, reichen als Suchparamter die Begriffe "Zenger" und "Theologie-Examen" aus.
Die folgenden Zenger-Zitate sind dem ersten Such-Vorschlag entnommen. Dahinter verbirgt sich das PDF-Dokument

ERICH ZENGER U.A.
EINLEITUNG IN DAS ALTE TESTAMENT


Vielleicht würde Dir Zenger folgendermaßen antworten:
5. Jüdisch-christliche Bibelhermeneutik.
5.1. Keine systematische Einheit, sondern dramatischer Zusammenhang
Die Polyphonie des Ersten Testaments ist von seinen "Arrangeuren" gewollt.
Die komplexe und kontrastive Gestalt des Tanach / Ersten Testaments ist zum größten Teil ausdrücklich gewollt. Daß und wie die Töne, Motive und Melodien, ja sogar die einzelnen Sätze dieser polyphonen Sinphonie miteinander streiten und sich gegenseitig ins Wort fallen, sich ergänzen und bestätigen, sich wiedersprechen - das ist kein Makel und keine Unvollkommenheit dieses Opus, sondern seine intendierte Klanggestalt, die man hören und von der man sich geradezu berauschen lassen muß, wenn man sie als Kunstwerk, aber auch als Gotteszeugnis erleben will.

5.2. Der spannungsreiche Dialog der beiden Teile der einen christlichen Bibel
Läßt man beide Testamente als Rivalinnen im Streit um die Gotteswahrheit zu, kann aus ihrer Korrelation eine neue, produktive Lektüre der einen, zweigeteilten Bibel hervorgehen, die keines der beiden allein und in sich selbst ermöglichen würde. Das erste Testament kann seine Rolle als Herausforderin, Rivalin und Kommentatorin des Neuen Testaments natürlich nur dann spielen, wenn man ihm sein Eigenwort mit Eigenwert beläßt. Die Differenzen müssen auch gelten gelassen werden.

5.3. Hermeneutik der kanonischen Dialogizität
Intertextuell erkennbare Bezüge der erst- und neutestamentlichen Texte werden in einen offenen "kanonischen" Dialog gebracht. Den ersttestamentlichen Prätexten wird aber dabei auch ihr Eigenleben gelassen.

5.4 Unterschiedliche Leseweisen für Juden und Christen.
Ambivalentes Verhältnis der Christen zu AT muß erneuert werden: indem dem jüdischen Tanach und christlichem ersten Testament ihr relationaler Wert zugestanden wird. Die Dynamik läßt sich gut am Aufbau vom Tanach und Ersten Testament erkennen.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#18 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Fr 1. Apr 2016, 01:12

Thaddäus hat geschrieben:Heute ist es in der ev. wie kath.Theologie Allgemeingut, das alte und das neue Testament als eine für den christlichen Glauben unabdingabre Einheit zu betrachten. Insofern ist Zengers kanonischer Ansatz, diese Einheit nochmals zu betonen und seine Forderung, dies bei der Exegese auch neutestamentlicher Schriften zu beachten, nicht außergewöhnlich. Ich schätze, diese Ansicht wird heute von praktisch allen Theologen geteilt.
Vielleicht hatte er daran ja Anteil daran, dass dies so gesehen wird. Soweit ich informiert bin, war er ein sehr bedeutender katholischer Theologie, der sich für den jüdisch-christlichen Dialog einsetzte. Laut Wikipedia erhielt er 2001 den Herbert Haag-Preis „Für Freiheit in der Kirche“, 2009 die Buber-Rosenzweig-Medaille und 2009 (ca. ein Jahr vor seinem Tod) den theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen für das wissenschaftliche Gesamtwerk und die Verdienste um den jüdisch-christlichen Dialog. Er lehnte auch die Karfreitagsbitte von Papst Benedikt XVI ab.
Mehr zu Zengers Verhältnis zum Judentum kannst Du seinem Freiburger Rundbrief entnehmen.

Thaddäus hat geschrieben:Der zum Urketzer erklärte Marcion hatte freilich nicht ganz unrecht mit seiner Ablehnung einer Relevanz des AT für die Christen, denn jedem Leser des AT und des NT muss auffallen, wie gravierend unterschiedlich allein die Gottesvorstellungen in den beiden Testamenten sind: Im AT ist YHWH an zahllosen Stellen noch ganz der gewalttätige und brutale Wetter- und Kriegsgott der Israeliten, während er im NT von Jesus mit abba (Vater) angeredet wird (was mit hoher Wahrscheinlichkeit historisch ist, weil ganz und gar neu und ungewöhnlich) und YHWH zu einem Gott der Liebe wird.
Natürlich wird diese Wendung um 180° christlich damit begründet, dass ein neuer Bund zwischen Gott und der Menschheit geknüpft wird. Dies ist zentraler Bestandteil christlichen Glaubens. Aber dennoch ist der Gott des AT ein ganz anderer, als der Gott des NT. Es ist ausgesprochen schwierig, diesen Widerspruch irgendwie zu glätten.
So, wie ich Zenger verstehe, versuchte er dies erst gar nicht, sondern gesteht beiden Gottesbildern ihr Eigenleben zu. Die Mosetora bezeichnet er als "unüberbietbare und ewig gültige Offenbarung und Lebensweisung". Insbesondere "Exodus wird in Unvergleichbarkeitsdimension aufgenommen und ist ein Gründungsgeschehen".

Zengers Einleitung in das Alte Testament scheint mir ein guter Buchtipp zu sein (Standardwerk der Bibelwissenschaften). ;)

Thaddäus hat geschrieben:Doch nun zum Eigentlichen: Ich musste nicht lange suchen, um die wissenschaftlich prekäre Prämisse der zengerschen kanonischen Exegese in der Wiedergabe Jastrzembskis zu finden. Sie zeigt sich in dieser Formulierung:

Zenger hält diesen Sachverhalt mit einem Zitat von Georg Steins fest: „Die biblischen Schriften werden nicht erst zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon. Die kanonische Qualität der biblischen Texte ist daher kein Gesichtspunkt neben anderen, sondern hat die Auslegung von Anfang an zu bestimmen ...“. [ IV „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers / Einleitung]
Wenn ich diese Annahme richtig verstehe, besagt sie nicht weniger, als dass bereits die altestamentlichen Autoren ihre Schriften - wissentlich oder unwissentlich - in einer Art Vorausschau oder Vorahnung auf das NT hin ursprünglich verfasst haben, also daraufhin verfasst haben, dass sich Jesus als der bereits im AT verheissene Messias erweisen wird ("... sondern sie entstehen als Kanon"). Und dies soll - nach Zenger/Ratzinger - die Basisprämisse der kanonischen Exegese sowohl der AT-Autoren, als auch der NT-Autoren sein.

Dieser Prämisse aber, und da bin ich mir ziemlich sicher - kann weder die Mehrheit der ev. noch der kath. Spezialisten und Exegeten des AT und NT folgen.
Ja, ich verstehe Deinen Kritikpunkt. Die von Dir hervorgehobene Formulierung lies sich eher wie eine theologisch-religiöse Glaubensbekundung als wie eine theologisch-wissenschaftliche Feststellung.

Thaddäus hat geschrieben:Historisch-kritisch betrachtet ist diese exegetische Prämisse schon allein deshalb hochproblematisch, weil einige berühmte Erzählungen des AT, wie die Sintflutgeschichte, der Bau der Arche (-Noah) oder die Aussetzung Moses in einem Bastkorb sowie seine Auffindung durch eine Königstochter, nachweislich viel älteren alt-babylonischen, sumerischen und akkaddischen Ursprungs sind (Gilgamesh-Epos u.a.), die die Autoren des AT lediglich übernommen haben. Die Basisprämisse Zengers und Ratzingers in der kanonischen Exegese besagt also, dass schon viel ältere babylonische u.a. Autoren ihre Geschichten verfasst haben müssen in Bezugnahme auf ein christlichen Heilsgeschehen, von dem diese Autoren keinen blassen Schimmer haben konnten.
Man kann selbstverständlich daran glauben, dass babylonische Autoren irgendwie in christliches Heilsgeschehen verflochten sind. Aber wissenschaftlich irgendwie plausibel zu machen, ist das, meiner Ansicht nach, nicht.
Auch hier muss ich Dir zustimmen. Zwar kann man aus religiösen Gründen dergleichen glauben, doch damit verlässt man den Geltungsbereich wissenschaftlicher Methodik. Deine Kritik bezieht sich allerdings auf die Mosetora und ich bin mir sicher, dass Zenger als einer der "bedeutendsten alttestamentlichen Bibelwissenschaftler seiner Zeit" (Quelle: Wikipedia) mit der komplexen Pentateuchforschung vertraut war.
Ich verstehe ihn so, dass die folgenden Schriften auf dem Fundament der Torah geschrieben wurden. Die Bücher des NT wurden ganz sicher in Bezug zum Tanach verfasst.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#19 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » Fr 1. Apr 2016, 14:01

Thaddäus hat geschrieben:Doch nun zum Eigentlichen: Ich musste nicht lange suchen, um die wissenschaftlich prekäre Prämisse der zengerschen kanonischen Exegese in der Wiedergabe Jastrzembskis zu finden. Sie zeigt sich in dieser Formulierung:

Zenger hält diesen Sachverhalt mit einem Zitat von Georg Steins fest: „Die biblischen Schriften werden nicht erst zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon. Die kanonische Qualität der biblischen Texte ist daher kein Gesichtspunkt neben anderen, sondern hat die Auslegung von Anfang an zu bestimmen ...“. [ IV „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers / Einleitung]
Wenn ich diese Annahme richtig verstehe, besagt sie nicht weniger, als dass bereits die altestamentlichen Autoren ihre Schriften - wissentlich oder unwissentlich - in einer Art Vorausschau oder Vorahnung auf das NT hin ursprünglich verfasst haben, also daraufhin verfasst haben, dass sich Jesus als der bereits im AT verheissene Messias erweisen wird ("... sondern sie entstehen als Kanon").
Halman hat geschrieben: Ja, ich verstehe Deinen Kritikpunkt. Die von Dir hervorgehobene Formulierung lies sich eher wie eine theologisch-religiöse Glaubensbekundung als wie eine theologisch-wissenschaftliche Feststellung.
Ich gebe Euch beiden hier Recht!

Selbst wenn die erweiternde Ausdeutung des Zitates von Georg Steins - rot gefärbt - durch Thaddäus nicht zutreffen würde, wäre sie keine wissenschaftliche Aussage.
Sie kann es auch dadurch nicht werden, wenn Georg Steins das einfach als Prämisse setzen würde, also:
Ich, Georg Steins, setze, dass jeder Text, der später in die Bibel aufgenommen wurde, bereits kanonisch sei.

Da das Zitat von Georg Steins hier allerdings aus dem Kontext gerissen ist, kann ich im Moment nicht wissen, wie es genau gemeint ist; insofern mache ich keine Aussage über das Denken Georg Steins; ich kann nur sagen:
falls das Zitat so gemeint ist, wie ich meinerseits nun ausgedeutet habe, markiert es eine unwissenschaftliche Aussage.

Die Frage, die sich aber nun erhebt, ist: muss jegliche kanonische Exegese unwissenschaftlich sein?
Ich sage nach wie vor: Nein!
Und das will ich begründen.

Zunächst einmal muss die Prämisse eindeutig sein.
Uneiendeutig wäre zum Beispiel die Prämisse: 'Es gibt Gott.'
Da 'Gott' unendlich viele und unerkennbare Bedeutungen für die Leser hat, taugt diese Prämisse für keine wissenschaftliche Untersuchung.

Ebenfalls wäre obige Prämisse: 'Jeder heutige Bibeltext war von Anfang an kanonisch gemeint' uneindeutig: da die Implikationen dieser Aussage nicht auslotbar sind.

Also: Immer, wenn in einer Prämisse eine Katze im Sack verborgen ist, wird keine wissenschaftliche Darlegung möglich sein. Die Eindeutigkeit der Prämisse ist unerlässliche Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Denn aus Uneindeutigem kann man nur uneindeutige Resultate folgern.
In der Kunst ist das möglich - sogar erwünscht - , in der Wissenschaft nicht.

Daraus folgt dann die Frage: Gibt es im Bereich kanonischer Auslegung - außerhalb der Historie und der Methodik kanonischer Deutungen - eindeutige Prämissen?

Ich denke, ja.
Nehmen wir die heutige Bibel - ich wähle mal die lutherisch-evangelische, weil die mir vertrauter ist -, dann liegt diese in ihrer heutigen Zusammanstellung als Fakt vor. Und im lutherisch-evangelischen Denken ist diese Zusammenstellung nicht heilig - Luther wollte am liebssten die Offenbarung aus der Bibel rausschmeißen, hat sie dann zumindest an das Ende verfrachtet.

Da die wissenschaftliche kanonische Exegese die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung voraussetzt, wird also auch nicht klammheimlich die Prämisse gesetzt, dass die Einzelschriften nicht einzeln entstanden sind und ihre jeweilige Historie haben.

SONDERN:
Der Blick wird auf den heutigen Leser gerichtet, nicht auf die Entstehung der Texte.

Weil dieses Phänomen so schwierig ist, gehe ich noch einmal kurz zurück auf die Literaturwissenschaft, denn da haben wir genau das gleiche Phänomen und die gleiche Schwierigkeit:

Die Rezeptionsforschung geht vom Leser aus: Wie versteht er den Text?
Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsanalyse hat in dieser Hinsicht genau die gleichen Erkenntnisse wie die kanonische Exegese:
Es gebe drei Bereiche; in den Worten von Egbert Ballhorn:
a. Die Textwelt
b. Die Herkunftswelt des Textes
c. Die Welt des Lesers

Punkt b. wird von der historisch-kritischen Forschung thematisiert
Punkt a. wird von der werkimmenanten Analyse thematisiert, die in der theologischen Forschung heute mit Punkt b. verbunden ist
c. ist ein entscheidender Punkt des Rezeptionsgedankens, der nicht nur in der Literaturwissenschaft und der Theologie immer mehr an Wichtigkeit gewinnst, sondern insgesamt in den Wissenschaften, sogar in den Naturwissenschaften.

Eine Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur Punkt c, sondern c in Zusammenhang mit b und a.
Das ist wichtig.

Ich zitiere dazu - aus Bequemlichkeit - aus Wikipedia, und zwar zu Thesen von Wolfang Iser, einem der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheoretiker ->

Wikipedia hat geschrieben:Das erste Problem, das Iser aufzeigt, ist das der Gültigkeit literarischer Interpretationen: Wäre die einmal interpretierte Bedeutung die einzig gültige, bliebe für den Leser nichts mehr übrig. Doch ein Text erwacht erst durch das Lesen zum Leben, die Interaktion zwischen Leser und Text ist also fundamental. Jeder Lesevorgang bedeutet eine Aktualisierung des Textes.

Iser fragt, ob es eine Bedeutung des im Text Dargestellten unabhängig von den verschiedenen Reaktionen der Leser gibt. Doch jede Interpretation ist immer nur eine von mehreren möglichen Realisierungen und kann immer wieder verändert werden. Der Text gewährt einen Spielraum für unterschiedliche Aktualisierungsmöglichkeiten: zu unterschiedlichen Zeiten verstehen unterschiedliche Leser den gleichen Text unterschiedlich.

Je weniger ein Text determiniert ist, desto stärker ist der Leser an seiner Sinnkonstitution beteiligt. Der fiktionale Text entzieht sich der Überprüfung in Bezug auf die Realität. Mangelnde Deckung der Textwirklichkeit mit der dem Leser bekannten Realität erzeugt Unbestimmtheit, die wiederum Adaptierbarkeit des Textes an individuelle Leserdispositionen erlaubt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Appel ... _der_Texte
Das Zitat kurz zusammengefasst:
Es findet immer ein Dialog zwischen Text und Leser statt, der Text muss vom Leser aktualisiert werden, damit er als "Sinnfaktor" überhaupt da ist. Bei fiktionalen Texten - die also keine Sachtexte sind - ist diese Unbestimmtheit sogar notwendig, damit der Leser für sich einen Sinn daraus holen kann.

Das ist auch das, was Ratzinger im Vorwort zu seinem Jesus-Buch schreibt:
Entscheidend sei der heutige Leser, der sich heute mit dem Text konfrontiert und heute Antwort auf Fragen möchte.
Wie weit dergleichen wissenschaftlich sein kann, muss ich - auch für mich selber - so nach und nach entwickeln, ich bitte da um Geduld.

Eine Sache möchte ich aber noch sagen, sie betrifft den Kanon selber:
Die wird in obigem Punkt a. thematisiert, der Textwelt.

Wenn ich den "Faust" lese, erkläre ich als Textwelt eben den veröffentlichten "Faust" und suche diesen zu verstehen.
Ich kann aber auch andere Werke von Goethe hinzunehmen und die Textwelt, die ich zusammenhängend deuten will, vergrößern.
Solche Sachen nennt man heute "Intertextualität", und sie kann sogar noch weiter gehen:

Man könnte also davon ausgehen, dass alle literarischen Texte, die in den letzten paar Jahren in Deutschland geschrieben wurden, intertextuell zusammenhängen, da kaum ein Autor sich nicht indirekt auf andere Autoren bezieht. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, schreiben sie alle unter gleichen momentanen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen.

Man kann sogar bestimmte heutige Texte mit Texten der literarischen Romantik in Verbindung bringen, weil sie alle auf eine Grundproblematik reagieren würden: einem Paradigmawechsel.

Der Witz bei dieser Betrachtungsweise ist: dass Bedeutung nicht nur einfach entschlüsselt wird, sondern durch Lesen und Deuten geschaffen wird.

Damit unterliegt auch die Vorstellung von "Wissenschaftlichkeit" in gewissem Sinn einem Pardigmenwechsel, dem Rechnung zu tragen ist.
Da bin ich selber dran, das irgendwie verbal zu packen.
Auch hier bitte ich also um Geduld.

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sven23
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#20 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von sven23 » Fr 1. Apr 2016, 19:08

Münek hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Die Exegese also, die sich auf den Kanon beschränkt, ist dann wissenschaftlich - soweit mein vorläugiges Fazit -, wenn diese Exegese eingebettet ist in eine Darlegung sämtlicher Methoden und eine transparente Beschreibung vorliegt, weshalb man die kanonische Exegese benutzt.

Die kanonische Exegese setzt den Glauben an einen gerechten und barmherzigen allmächtigen Gott und einen göttlichen Heilsplan voraus, der u.a. vorsah, dass Jesus von Nazareth als der eingeborene präexistente Sohn des Allmächtigen zum ewigen Heil der Menschen einen qualvollen Sühnetod zu erleiden hatte, von den Toten auferstand und zu seinem himm-
lischen Vater zurückkehrte.


Was eine solche Prämisse mit historischer Wissenschaft zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Dem aufrichtigen Versuch, Geschichte bestmöglich ergebnisoffen "zu rekonstruieren", wird damit aus rein apologetischen Glaubensgründen ganz bewusst
gegen alle "intellektuelle Redlichkeit" der Riegel vorgeschoben.

Ich bin davon überzeugt, dass die "kanonische Exegese" wegen ihrer dogmatischen und damit un-
wissenschaftlichen Voraussetzungen an den theologischen Fakultäten keinen Fuß fassen wird.

Sehe ich genau so.
Kanonische Exegese ist "geeignet", in zirkelreferenter Weise ein Glaubenskonstrukt zu "bestätigen".
Im Grunde genommen wurde das wichtigste ja schon in anderen Threasds gesagt. In der Leben-Jesu-Forschung ist die kanonische Exesege aus guten Gründen nicht das Mittel der Wahl, sondern die historisch kritische Methode.
Sie ist einfach ein in der Leben-Jesu-Forschung ungeeignetes Werkzeug. Es ist ungefähr so, als ob man mit einem Mikroskop das Weltall absuchen würde. Dabei kommt nichts Brauchbares rum.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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