Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

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Thaddäus
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#21 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Thaddäus » Sa 2. Apr 2016, 16:27

Auch dir vielen Dank Savonlinna für diesen Text und die kurze Darstellung der Rezeptionsästhetik Isers, die ich übrigens teile.
Die Rezeptionsforschung geht vom Leser aus: Wie versteht er den Text?
Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsanalyse hat in dieser Hinsicht genau die gleichen Erkenntnisse wie die kanonische Exegese:
Es gebe drei Bereiche; in den Worten von Egbert Ballhorn:
a. Die Textwelt
b. Die Herkunftswelt des Textes
c. Die Welt des Lesers

Punkt b. wird von der historisch-kritischen Forschung thematisiert
Punkt a. wird von der werkimmenanten Analyse thematisiert, die in der theologischen Forschung heute mit Punkt b. verbunden ist
c. ist ein entscheidender Punkt des Rezeptionsgedankens, der nicht nur in der Literaturwissenschaft und der Theologie immer mehr an Wichtigkeit gewinnst, sondern insgesamt in den Wissenschaften, sogar in den Naturwissenschaften.

Eine Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur Punkt c, sondern c in Zusammenhang mit b und a.
Das ist wichtig.

Ich zitiere dazu - aus Bequemlichkeit - aus Wikipedia, und zwar zu Thesen von Wolfang Iser, einem der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheoretiker ->
Die werkimmanente Interpretation, ausgehend von der Fragestellung, was die Intention des Autors ist, ist wichtig, kann aber nur ein Aspekt einer Interpretation sein, denn zumeist sagt uns ein Autor in seinen Texten viel mehr, als das, was er uns sagen will. So gibt er uns auch Auskunft darüber, in welcher Welt und welchem Weltbild er lebt, denkt und schreibt. Oder in seinen Texten spiegeln sich gewisse psyschische Befindlichkeiten des Autors selbst, die zwar ein Leser, nicht aber unbedingt der Autor selbst erkennen kann (berühmtes Beispiel ist Kafkas problematische Vater-Beziehung).

Die historisch-kritische Exegese kümmert sich zwar besonders um das, was die biblischen Autoren uns sagen wollen, sie schließt eine rezeptionsästhetische Sicht aber nicht aus. Gerade in der christlichen Exegese muss es sogar darum gehen, die alten christlichen Texte für uns heutige Leser neu zu erschließen. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass dies weniger gut gelingt, wenn man nicht die existenziellen Aspekte dieser Texte hervorhebt, sondern diejenigen, die eigentlich dem noch weitgehend mythischen Welt-Verständnis der antiken Autoren entspringen, wie z.B. ihren Glauben an allerlei wundersame Begebenheiten und dämonische Kräfte etc. Wobei es zu dieser Zeit allerdings auch schon eine gebildete griechische und römische Oberschicht gab, die mit alle dem ebenfalls schon nicht mehr viel anfangen konnte.

Lena
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#22 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Lena » Sa 2. Apr 2016, 17:47

Halman hat geschrieben: Werf doch nicht gleich die Flinte ins Korn. :Herz:

Du bist herzig :Herz:.

Es heisst aber auch ;):

Schuster bleib bei deinen Leisten.
Bedeutung: tu nichts, wovon du nichts verstehst; rede nicht über etwas, womit du dich nicht auskennst.
Wiktionary


Vielen vielen Dank für Deine Mühe :D.
Kannst du mir helfen, dich richtig zu verstehen?
Erbreich 

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Savonlinna
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#23 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » So 3. Apr 2016, 15:22

Thaddäus hat geschrieben:Auch dir vielen Dank Savonlinna für diesen Text und die kurze Darstellung der Rezeptionsästhetik Isers, die ich übrigens teile.
Dass Du sie teilst, ist sehr hilfreich. :)

Thaddäus hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Die Rezeptionsforschung geht vom Leser aus: Wie versteht er den Text?
Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsanalyse hat in dieser Hinsicht genau die gleichen Erkenntnisse wie die kanonische Exegese:
Es gebe drei Bereiche; in den Worten von Egbert Ballhorn:
a. Die Textwelt
b. Die Herkunftswelt des Textes
c. Die Welt des Lesers

Punkt b. wird von der historisch-kritischen Forschung thematisiert
Punkt a. wird von der werkimmenanten Analyse thematisiert, die in der theologischen Forschung heute mit Punkt b. verbunden ist
c. ist ein entscheidender Punkt des Rezeptionsgedankens, der nicht nur in der Literaturwissenschaft und der Theologie immer mehr an Wichtigkeit gewinnst, sondern insgesamt in den Wissenschaften, sogar in den Naturwissenschaften.

Eine Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur Punkt c, sondern c in Zusammenhang mit b und a.
Das ist wichtig.

Ich zitiere dazu - aus Bequemlichkeit - aus Wikipedia, und zwar zu Thesen von Wolfang Iser, einem der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheoretiker ->
Die werkimmanente Interpretation, ausgehend von der Fragestellung, was die Intention des Autors ist, ist wichtig, kann aber nur ein Aspekt einer Interpretation sein, denn zumeist sagt uns ein Autor in seinen Texten viel mehr, als das, was er uns sagen will.
Ja, richtig.

Vielleicht habe ich ungenau geschrieben oder Du hast Dich verschrieben, aber die werkimmanente Interpretation zähle ich zu Punkt a. Sie kümmert sich nicht um den Autor, sondern konzentriert sich auf die Struktur des Werkes.
Dadurch gerade wird ja vieles als im Werk verborgen herausgearbeitet, was der Autor vielleicht gar nicht sagen wollte.

Ich glaube, es war Umberto Eco - oder auch Wolfgang Iser? -, der zwischen Autor-Intention und Werk-Intention unterschied.

Thaddäus hat geschrieben:Die historisch-kritische Exegese kümmert sich zwar besonders um das, was die biblischen Autoren uns sagen wollen, sie schließt eine rezeptionsästhetische Sicht aber nicht aus.
Genau.

Thaddäus hat geschrieben:Gerade in der christlichen Exegese muss es sogar darum gehen, die alten christlichen Texte für uns heutige Leser neu zu erschließen. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass dies weniger gut gelingt, wenn man nicht die existenziellen Aspekte dieser Texte hervorhebt, sondern diejenigen, die eigentlich dem noch weitgehend mythischen Welt-Verständnis der antiken Autoren entspringen, wie z.B. ihren Glauben an allerlei wundersame Begebenheiten und dämonische Kräfte etc.
Dass die Kanonforschung oder gar Kanonexegese die historisch-kritische Forschung voraussetzt, ist auch die dezidierte Meinung von Ilse Müllner - Katholische Professorin -, auf die ich nun im nächsten post ein Schlaglicht werfen möchte.

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Savonlinna
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#24 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » So 3. Apr 2016, 17:37

Ilse Müllner, geb. 1966, ist Professorin für Altes Testament, Bereich Katholische Theologie in Kassel.

Sie hat einen Essay
Dialogische Autorität. Feministisch-theologische Überlegungen zur kanonischen Schriftauslegung
veröffentlicht, der für das Threadthema möglicherweise ergiebig ist.

Dieser Essay ist in dem Sammelband
Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen,
herausgegeben von Egbert Ballhorn und Georg Steins“, Kohlhammer Verlag Suttgart, 2007
enthalten.

Der Sammelband ist insgesamt interessant, vielleicht werde ich später auch noch auf andere Autoren dieses Bandes eingehen.

Jetzt aber erst zu Ilse Müllner.
Sie scheint mir darum interessant, weil sie die Kanonbildung nicht nur erläutert, sondern in ihrer Machstruktur herausarbeitet.
Aber auch damit begnügt sie sich nicht, sondern deutet in diesem Essay einen Ansatz an, wie man sich dieser Machtstruktur nicht mehr unterwerfen muss.


Ich zitiere zunächst ihren kleinen historischen Abriss der Auseinandersetzung mit dem Kanon innerhalb der wissenschaftlichen Theologie->
Ilse Müllner hat geschrieben:Noch vor einigen Jahren galt das Paradigma der historischen Kritik in der Theologie als Garat für die Wissenschaftlichkeit im Umgang mit den biblischen Schirften. Die Auslegung richtete sich vor allem auf den „Autorsinn“ eines Texts. Methodisch brachte diese Ausrichtung eine Konzentration auf die Textarchäologie mit ihren immer kleiner werdenden Einheiten mit sich. Demgegenüber fand der Kontext einzelnder Abschnitte kaum Beachtung. Da der Kanon als ein dem Text nachträgliches Konstrukt galt, wurde seine Erforschung dem Bereich der Kirchengeschichte und der Dogmatik zugeschlagen, der Exeget, die Exegetin hatte damit nichts zu tun.

Eine Infragestellung dieser Sicht auf den Kanon lässt sich sporadisch immer wieder in der Exegese des 20. Jahrhunderts beobachten. Zu einer breiteren Strömung, die sich hermeneutisch, methodologisch und methodisch entwickelt, wird der canonical approach erst seit den ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahren.

Im Folgenden charaktersiert sie ein wenig die kanonische Exegese ->
Ilse Müllner hat geschrieben:Die kanonische Auslegung ist ein bibelwissenschaftlicher Ansatz, der den literaturtheoretischen Aspekt des Kanons wahr- und ernst nimmt. Der Kanon gilt als literarisches Phänomen, dessen Architektur sich als sinnvoller Zusammenhang beschreiben lässt. Der Weg führt weg von der Fixierung auf den Einzeltext in seinem Entstehungsprozess und hin zum synchron wahrnehmbaren Netz intertextueller kanonischer Bezüge

Sie erläutert dann weiterhin, dass der Kanon gemeinschaftsbildend ist und mit den Zweck hat, existentielle Fragen der Gemeindemitglider - wie die zu Leben und Tod - lösen zu helfen.
Dabei hat Ilse Müllner beboachtet, dass schon heute in der katholischen Praxis außerkanonische, sogar außerbiblische Texte gewählt werden, die der Gemeinde näher stehen als die alten Bibeltexte ->

Ilse Müllner hat geschrieben:Unter dem Titel "Moses, Jesus und der kleine Prinz" reflektiert Joachim Kügler [= Professor für Katholische Theologie, Neutestamentliche Wissenschaften, Bayreuth] dieses Phänomen ->
"Kinder unserer Zeit wollen und müssen selbst definieren, was ihnen heilig ist, was ihrem Leben Sinn gibt, was die Wahrheit ist, mit der sie leben und dann auch sterben können."

In diesem Zusammenhang stellt Ilse Müllner in Frage, dass nur biblische Schriften - also nur kanonische - für diese Funktion in Frage kommen ->
Ilse Müllner hat geschrieben:In diesem Horizont erhalten viele religionsgeschichtliche Forschungsergebnisse neue Relevanz. Wie steht es um die aktuelle religiöse Orientierungsfunktion, die zeitnah zu den biblischen Texten entstanden sind?
Ich will jetzt darauf nicht näher eingehen, nur darauf hinweisen, dass laut Müllner in den letzten zwanzig Jahren so viele neue religionswissenschaftliche Errgebnisse vorliegen, dass die biblischen Aussagen über das alte Judentum wie über die entstehende Christenheit nur noch mit Vorsicht zu betrachten seien.

Jetzt mache ich einen Sprung zu Müllners Kapitel "Kanon und Zensur" ->

Ilse Müllner hat geschrieben:In jedem Kanonisierungsprozess spielt Zensur eine Rolle, jeder Kanonisierungsprozess ist in doppeltem Sinn ein Ausschließungsprozess:
1. Er schließt manche Texte und, sofern der Kanon schriftkonstituiert ist, alle anderen kulturellen Artefakte aus.
2. Er schließt - durch die Begrenzung der priviligierten interkontextuellen Bezüge - mögliche Bedeutungen der kanonischen Texte aus.

Begrenzungsprozesse haben immer etwas mit gesellschaftlicher Macht zu tun.

Hier mache ich erst einmal einen Schlusspunkt.

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Halman
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#25 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » So 3. Apr 2016, 23:55

@Savonlinna
@Thaddäus

Ich danke Euch von :Herz: für Eure anspruchsvolle und lehrreiche Diskussion. Die Zitate von Ilse Müllner helfen mir, die kanonische Exegese besser zu verstehen, sie drückt sich etwas leichter verständlich aus als dies in meiner Primärquelle von Zenger der Fall ist.
Der Prozess, in dem sich der Bibelkanon herauskristallisierte ist ein langer und komplexer Prozess, indem natürlich nicht nur "heilige Schriften" in den Kanon aufgenommen wurde, er ist auch ein Abgrenzungsprozess, in dem Texte auch ausgeschlossen wurden.
In Verbindung mit diesem Phänomen mögen viele an die gnostischen und apokryphen Schriften denken. Vor knapp einem Jahr hatte ich mal den Thread Was ist eigentlich die Gnosis? (Bibelforum) eröffnet und verwandte als Basis eine kurze Erörderung eines alten Freundes von mir, dem ich vor einigen Jahren um Hilfe bat, da er aufgrund einiger Semester Theologie und literaturwissenschaftlicher Kenntisse über einiges Fachwissen verfügt. Da seine Antwort auch den Prozess der Kanonisierung betrifft, zitiere ich ihn hier:
Zitat von Logan5:
...
Gnosis ist ein sehr spannendes und komplexes Feld.
Ich versuche mich mal so kurz wie möglich zu fassen.

Zuerst handelt es sich dabei um keine Religion in dem Sinn, wie wir das Christentum oder das Judentum als Religionen begreifen. Vielmehr ist Gnosis eine Art Sammelbegriff für ähnlich geartete, aber keinesfalls identische religiöse Weltanschauungen, denen ganz unterschiedliche Mythen und Vorstellungen zugrunde liegen.

Das Wort selbst stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie "Erkenntnis".
Weisheit und Erkenntnis über das Wesen des Menschen, seinen Daseinszweck und die Welt, in der er sich wiederfindet, waren damals - ganz im Gegensatz zu heute - wichtige Begriffe, mit denen man sich ausgiebig beschäftigte.

Das Aufkommen gnostischer Glaubensströmungen fällt nicht zufällig in eine pessimistische Zeit gesellschaftlicher und lebensqualitativer Umbrüche. Gnosis hat einen stark weltverneinenden Charakter. Auf etwas zu wörtlich genommener Grundlage des Höhlengleichnisses Platons ist die Gnosis ein sprudelnder Quell wild wuchernder, phantasievoller und teils überaus komplexer Schöpfungsmythen, deren Gemeinsamkeiten darin bestehen, die Welt als einen Ort zu identifizieren, der eigentlich nicht existieren dürfte und der die Harmonie der eigentlich Weltgestalt - nämlich einer rein geistigen, immateriellen Sphäre - massiv stört. Aus den unterschiedlichsten Gründen sind aber Teile dieser göttlichen Existenz in unserer materiellen Welt gefangen und erst wenn der Prozess des Entstehens neuer Materie aufgehalten wurde und die Rückführung der göttlichen Funken in ihre eigentliche Sphäre gelungen ist, kann der Urzustand der Welt wieder hergestellt werden. Solche göttliche Lichtpartikel befinden sich auch in den Seelen vieler Menschen. Die "Erkenntnis" des Gnostikers besteht also darin, seine eigene partielle Göttlichkeit zu begreifen und daraufhin jeglicher Materie zu entsagen.

Auch Erlöserfiguren sind in der Gnosis weit verbreitet, die zunächst selbst durch Einfall göttlicher Partikel in die Welt erweckt werden und zur Erkenntnis ihrer wahren Natur gelangen, wonach sie versuchen auch andere zu befreien und ihnen Erkenntnis zu schenken. Der erlöste Erlöser sozusagen.

Ein interessantes Phänomen im Entstehen gnostischer Glaubensvorstellungen ist allerdings, dass es kaum Hinweise auf einen originären gnostischen Mythos gibt. Alle in gnostischen Kreisen verbreiteten Vorstellungen basieren auf bereits existierenden Glaubensansichten, derer sie sich gewissermaßen in parasitärer Weise bedienen.

Einige dieser Mythen nutzen die griechische Götterwelt als Grundlage, andere fußen auf philosophischen Ideen, die theologisch uminterpretiert und ausgebaut werden. Eine ganze Menge gnostischer Strömungen bedient sich dabei des geistigen und personalen Inventars des Judentums und in verstärkter Menge besonders des Christentums.

Nun verhält es sich so, dass Christentum und Gnosis in etwa zeitgleich auftreten und sich gegenseitig beeinflussen. Da es zu dieser Zeit noch keine Kanonisierung der Evangelien gibt, entstehen unzählige Mischformen und es ist selbstverständlich, dass sich diverse Gnostiker für Christen halten, weil sie sich gar nicht bewusst sind, dass christliches Gedankengut gnostisch umgedeutet wurde oder weil sie diese Auslegungsweise einfach für legitim halten.

Noch heute halten sich diverse Vorstellungen im Christentum, die eigentlich aus der Vorstellungswelt der Gnosis stammen - beispielsweise das ablehnende Verhältnis einiger Christen zur Sexualität, das der Materiefeindlichkeit der Gnostiker entspringt. Auch die Rolle der Frau wurde im Christentum durch die Gnosis abgewertet, da Frauen in diesen Bewegungen offenbar oft tragende Rollen hatten. Davon wollte man sich abgrenzen.

Überhaupt kam bei vielen Christen, die in der Gnosis eine Verfälschung ihrer Lehre sahen, der Wunsch auf, sich von dieser zu distanzieren. Das ist auch nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es sich beim Christentum doch im Grunde um eine sehr lebensbejahende, den Menschen zugewandte und eigentlich durchaus fortpflanzungsbereite Religion handelt, während die Gnosis alles Körperliche ablehnt und die Meinung vertritt, die Welt sei von einem zweitklassigen Handwerkergott - einem Demiurgen - erschaffen worden oder gar durch einen Unfall entstanden.

Für Außenstehende waren aber Christentum und Gnosis kaum unterscheidbar, was die Missionstätigkeit massiv erschwert haben dürfte. Aus diesen Gründen entschloss man sich, die verbindlichen Glaubensschriften des Christentums in einem unveränderbaren Kanon festzulegen, den wir heute als "neues Testament" bezeichnen. Alle gnostisch gefärbten Schriften blieben außen vor. Es wurde sogar lange diskutiert, ob man das Johannes-Evangelium in den Kanon aufnehmen sollte oder nicht, da es in Verdacht stand, gnostischen Kreisen nahe zu stehen. Andere Meinungen verstanden es allerdings als direkte Antwort - sozusagen als eine Gegenschrift - zur Gnosis.

So schnell, wie die Bewegung der gnostischen Glaubensvorstellungen im ersten Jahrhundert gekommen war, so schnell war sie dann zwei Jahrhunderte später nahezu komplett wieder verschwunden. Vermutlich liegt das daran, dass die Gnosis sehr stark das Individuum ansprach und weniger auf Gemeinschaft setzte. Ohne Kirchenbildung ist es aber schwer, eine Glaubensweise längerfristig zu tradieren, also starben die Gnostiker einfach aus.

Leider sind die meisten Quellen, die wir zu diesem Phänomen besitzen in den Schriften der Kirchenväter oder diversen pseudopaulinischen Briefen des NT zu finden und diese sind natürlich polemischer Natur, denn man will ja kein gutes Haar an der Konkurrenz lassen. Dem entsprechend wirr und seltsam wirken dann auch die Beschreibungen entsprechender Schöpfungsmythen. Glücklicherweise gibt es aber auch die Schriften von Nag Hammadi, die durch einen schönen Zufall entdeckt wurden und etliche gnostische Originaltexte enthalten. Darunter eben auch viele apokryphe Evangelien.

Diese Apokryphen sind also keinesfalls irgendwelche Geheimschriften, die die böse Kirche vor den Gläubigen und dem Rest der Welt verheimlichen wollte - wie es manchmal in diversen Medien dargestellt wird - oder gar authentischere Texte, die irgendwelche Wahrheiten über Jesus enthalten würden, die uns der biblische Kanon bewusst verschweigt, sondern es ist einfach so, dass diese Schriften eine völlig andere Lehrmeinung als die christlichen Texte vertreten.

Und die ersten christlichen Evangelien, die uns überliefert sind, sind nun einmal vorgnostisch und hätten damit höheren Authentizitätsanspruch, als die viel später entstandenen Apokryphen. Sofern man hier von Authentizität sprechen kann, denn die kanonisierten Evangelien sind ja ebenfalls lange nach Jesus' Tod geschrieben worden.

Die Matrix - Trilogie spielt uns übrigens im Grunde genommen einen kompletten gnostischen Mythos vor, vom Leben in einer eigentlich nicht richtigen Welt, aus der man sich nur durch einen Akt der Selbsterkenntnis retten kann, über den erlösten Erlöser, bis hin zum Demiurgen, der die künstliche, widernatürliche Welt geschaffen hat und an dem Mann vorbei muss, um den Weg in die Freiheit zu erlangen.

Irgendwo im Iran lebt außerdem noch die relativ kleine Glaubensgruppe der Mandäer, deren Weltanschauung der Gnosis entspringt und die somit das einzige noch existierende Überbleibsel dieser religiösen Strömung darstellt.
Vielleicht ist diese kurze Erörterung hilfreich.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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Savonlinna
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#26 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » Mo 4. Apr 2016, 12:56

Halman hat geschrieben: Die Zitate von Ilse Müllner helfen mir, die kanonische Exegese besser zu verstehen, sie drückt sich etwas leichter verständlich aus als dies in meiner Primärquelle von Zenger der Fall ist.
Der Prozess, in dem sich der Bibelkanon herauskristallisierte ist ein langer und komplexer Prozess, indem natürlich nicht nur "heilige Schriften" in den Kanon aufgenommen wurde, er ist auch ein Abgrenzungsprozess, in dem Texte auch ausgeschlossen wurden.
In Verbindung mit diesem Phänomen mögen viele an die gnostischen und apokryphen Schriften denken.
Ja, die wären ein Beispiel.

Ilse Müllner deutet allerdings auch noch weitere an, die eben gerade erst in den letzten 20 Jahren erschlossen wurden. ->
"Soziale und religiöse Praktiden, die in den neutestamentlichen Texten als angemessen dargestellt werden, entsprechen nur zum Teil frühchristlichem Handeln", schreibt sie.
Und sie zitiert Martin Luther, dass auch außerhalb der Kanongrenzen Texte existieren, "die gut und nützlich zu lesen sind" - damit meinte Luther die Apokryphen.

Müllner unterscheidet in diesem Zusammenhang allerdings Grenzen
a. außerhalb des Kanons
b. innerhalb des Kanons.

Und sie meint, dass sich das Außerhalb kaum ohne nähere Analyse des Raums innerhalb der Kanongrenzen debattieren lasse. In ihrem Essay lege sie das Hauptaugenmerk auf den Raum innerhalb der Kanongrenzen.

So stellt sie zum Beispiel fest - was Thaddäus oben schon mal zitiert hat und wo nun der Kontext für mich da ist:
dass die biblischen Schriften schon als Kanon produziert wurden. ->
Ilse Müllner hat geschrieben:Damit findet nicht nur das Verfassen der Schriften, sondern auch die Redaktion, Kanonisierung und Interpretation im Rahmen patriarchalischer Ordnungen und androzentrischer Symbolwelten statt.

Die TrägerInnengruppen wählen bestimmte Äußerungen von in Israel praktizierter Religiosität aus, werten andere Formen ab und grenzen diese als für den JHWH-Glauben Israels illegitime Randerscheinungen aus. Das Deuteronomium, später die Tora, stehen an der Wiege des Kanons, lange noch bevor im 4.Jh. n.u.Z. der Begriff auf eine Sammlung von Schriften angewendet wurde.
[...]
Martin Buber hat schon in den 30er Jahren des vergangengen Jahrhunderts formuliert: "Die Kompositionsarbeit war bereits 'biblisch', ehe die erste Vorstellung einer bibelartigen Struktur erwachte."

Und nun kommt das, wozu ich Ilse Müllner überhaupt zitiere und auswerte: darzulegen, unter welchen Bedingungen die kanonische Exegese wissenschaftlich sei.
Sie schreibt das im Anschluss direkt an das eben Zitierte ->
Ilse Müllner hat geschrieben:Auf dieser Basis kann auch die Bibelwissenschaft als solche zur Erforschung des Kanons (nicht nur einzelner kanonischer Texte) beitragen. Es ist eine exegetische Aufgabe herauszuarbeiten, welcher Begriff von Kanon sich aus den Schriften selbst ableiten lässt.

Soweit erstmal.

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sven23
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#27 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von sven23 » So 10. Apr 2016, 07:18

Interessant ist auch das Entsthehen des neutestamentlichen Kanons.

"Bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts besaß die Christenheit kein eigenes heiliges Buch, weshalb sie, mit Nietzsche zu sprechen, mit dem unerhörten philologischen Possenspiel beschäftigt war, das Alte Testament den Juden unterm Leibe wegzuziehen. Für das gesamte kirchliche Christentum ist das Buch der Juden zunächst die entscheidende schriftliche Instanz. Der Ende des 1. Jahrhunderts in Rom verfasste und einem römischen Bischof zugeschriebene 1. Clemensbrief enthält mehr als hundert Zitate aus dem Alten Testament, doch bloß zwei aus den Evangelien, die überhaupt erstmals um 140 Bischof Papias, einer der "apostolischen Väter" erwähnt, aber nur, um festzustellen, dass er die mündliche Überlieferung der schriftlichen vorziehe. Und noch um 160 beruft sich Justin, der Märtyrer, in der bis dahin umfangreichsten christlichen Schrift fast ausschließlich auf das Alte Testament, übrigens bloß, um die Juden in ungeheuerlicher Weise zu verleumden.

Nur die Worte Jesu genossen von Anfang an die gleiche Autorität, nicht aber die Bücher, in die sie nachher kamen. Sie wurden erst in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts, als die mündliche Überlieferung immer unwahrscheinlichere Formen annahm, dem Alten Testament gleichwertig und ihm schließlich vorgezogen. Erst seit dieser Zeit begann man auch, die später kanonisierten Evangelien den "apokryphen" Evangelien vorzuziehen und schlechthin zum "Evangelium" zu machen."

Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte (1996)

Der von der Kirche behauptete Anspruch der Inspiriertheit wurde von den Autoren selbst nie erhoben.

"Die neutestamentlichen Schriften galten den Urchristen nicht als heilig und inspiriert

Die katholische Kirche machte auf dem Konzil von Florenz (Bulle "Cantate Domino" vom 4. Februar 1442), auf dem Konzil von Trient (4. Sitzung vom 8. April 1546) und auf dem vatikanischen Konzil (3. Sitzung vom 24. April 1870) die Lehre von der Inspiration der Bibel, die bekanntlich Irrtumslosigkeit in sich schließt, zu einem Grunddogma.

Unter allen neutestamentlichen Traktaten aber erhebt nur die Apokalypse, die mit knapper Not in die Bibel kam, den Anspruch, ihrem Verfasser von Gott diktiert worden zu sein. Und sie beansprucht Autorität nicht als kanonisches, sondern, nach jüdischen Vorbildern, als prophetisches Buch. Sie will Weissagung sein. Die Erfüllung ihrer Weissagungen, die sich zum größten Teil auf die nächste Zeit bezogen hatten, steht allerdings noch aus.

Kein anderer neutestamentlicher Autor aber deklariert seine Produktion als göttlich. Auch Paulus nicht. Ausdrücklich und sehr scharf unterscheidet er zwischen dem, was er vom Herrn stammend anführt und seine Privatmeinung, und nennt zudem sein Erkennen bloß "Stückwerk". Soweit bekannt ist, ordnete Paulus überhaupt nur ein einziges Mal die Verlesung eines Briefes in einer zweiten Gemeinde an. Doch spricht er auch dabei nicht von einer Verbreitung in allen Gemeinden oder gar in der ganzen Kirche und Nachwelt.

Wie Paulus und die anderen Verfasser der neutestamentlichen Briefe, so gibt auch kein Evangelist vor, von Gott inspiriert worden zu sein. Im Gegenteil! Der Prolog des Lukasevangeliums, in dem der Autor versichert, "allen Tatsachen von den Anfängen an sorgfältig nachgeforscht" zu haben, ist der beste Beleg dafür, dass der Schreiber gar nicht daran dachte, sich für inspiriert zu halten."

Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte (1996)
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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